Je mehr man das Licht als Materie, als Körper ansah, für desto passender hielt man diese Gleichniß- rede. Grimaldi wird gar nicht fertig das Licht zu zerstreuen, zu zerbrechen und zu zerreißen. Bey Riz- zetti findet auch die Dispersion der Strahlen mit denen er operirt, jedoch wider ihren Willen und zu ihrem höchsten Verdrusse, statt. Newton, bey dem die Strahlen ja auch auseinander gebrochen werden, brauchte diesen und ähnliche Ausdrücke, aber nur discursiv, als erläuternd, versinnlichend; und auf diese Weise wird jenes Wort herangetragen, bis es endlich in dem neu eintretenden unerwarteten Noth- falle aufgeschnappt und zum Kunstworte gestempelt wird.
Mir sind nicht alle Documente dieses wichtigen Ereignisses zu Handen gekommen, daher ich nicht sa- gen kann, wer sich zuerst so ausgedrückt. Genug, dieses Kunstwort ward bald ohne Bedenken gebraucht, und wird es noch, ohne daß irgend Jemanden einfiele, wie durch jene große Entdeckung das Alte völlig ver- ändert und aufgehoben worden. Man hat mit diesem Pflaster den Schaden zugedeckt; und wer in der Kürze einen eminenten Fall sehen will, wie man mit der größten Gemüthsruhe und Behaglichkeit einen neuen Lappen auf ein altes Kleid flickt, der lese in den An- fangsgründen der Naturlehre von Johann Tobias Mayer, die kurze Darstellung von der Theorie der Farben, besonders vergleiche man den 630 und 635 Paragraphen. Wäre dieß ein alter Autor; so würden
Je mehr man das Licht als Materie, als Koͤrper anſah, fuͤr deſto paſſender hielt man dieſe Gleichniß- rede. Grimaldi wird gar nicht fertig das Licht zu zerſtreuen, zu zerbrechen und zu zerreißen. Bey Riz- zetti findet auch die Diſperſion der Strahlen mit denen er operirt, jedoch wider ihren Willen und zu ihrem hoͤchſten Verdruſſe, ſtatt. Newton, bey dem die Strahlen ja auch auseinander gebrochen werden, brauchte dieſen und aͤhnliche Ausdruͤcke, aber nur discurſiv, als erlaͤuternd, verſinnlichend; und auf dieſe Weiſe wird jenes Wort herangetragen, bis es endlich in dem neu eintretenden unerwarteten Noth- falle aufgeſchnappt und zum Kunſtworte geſtempelt wird.
Mir ſind nicht alle Documente dieſes wichtigen Ereigniſſes zu Handen gekommen, daher ich nicht ſa- gen kann, wer ſich zuerſt ſo ausgedruͤckt. Genug, dieſes Kunſtwort ward bald ohne Bedenken gebraucht, und wird es noch, ohne daß irgend Jemanden einfiele, wie durch jene große Entdeckung das Alte voͤllig ver- aͤndert und aufgehoben worden. Man hat mit dieſem Pflaſter den Schaden zugedeckt; und wer in der Kuͤrze einen eminenten Fall ſehen will, wie man mit der groͤßten Gemuͤthsruhe und Behaglichkeit einen neuen Lappen auf ein altes Kleid flickt, der leſe in den An- fangsgruͤnden der Naturlehre von Johann Tobias Mayer, die kurze Darſtellung von der Theorie der Farben, beſonders vergleiche man den 630 und 635 Paragraphen. Waͤre dieß ein alter Autor; ſo wuͤrden
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Je mehr man das Licht als Materie, als Koͤrper
anſah, fuͤr deſto paſſender hielt man dieſe Gleichniß-
rede. Grimaldi wird gar nicht fertig das Licht zu
zerſtreuen, zu zerbrechen und zu zerreißen. Bey Riz-
zetti findet auch die Diſperſion der Strahlen mit denen
er operirt, jedoch wider ihren Willen und zu ihrem
hoͤchſten Verdruſſe, ſtatt. Newton, bey dem die
Strahlen ja auch auseinander gebrochen werden,
brauchte dieſen und aͤhnliche Ausdruͤcke, aber nur
discurſiv, als erlaͤuternd, verſinnlichend; und auf
dieſe Weiſe wird jenes Wort herangetragen, bis es
endlich in dem neu eintretenden unerwarteten Noth-
falle aufgeſchnappt und zum Kunſtworte geſtempelt
wird.
Mir ſind nicht alle Documente dieſes wichtigen
Ereigniſſes zu Handen gekommen, daher ich nicht ſa-
gen kann, wer ſich zuerſt ſo ausgedruͤckt. Genug,
dieſes Kunſtwort ward bald ohne Bedenken gebraucht,
und wird es noch, ohne daß irgend Jemanden einfiele,
wie durch jene große Entdeckung das Alte voͤllig ver-
aͤndert und aufgehoben worden. Man hat mit dieſem
Pflaſter den Schaden zugedeckt; und wer in der Kuͤrze
einen eminenten Fall ſehen will, wie man mit der
groͤßten Gemuͤthsruhe und Behaglichkeit einen neuen
Lappen auf ein altes Kleid flickt, der leſe in den An-
fangsgruͤnden der Naturlehre von Johann Tobias
Mayer, die kurze Darſtellung von der Theorie der
Farben, beſonders vergleiche man den 630 und 635
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 586. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/620>, abgerufen am 22.11.2024.
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