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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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"Das Gespenst ist schöner, seine Farben haben
mehr Einheit, mehr Glanz, mehr Entschiedenheit, je-
mehr sie sich von der Quelle entfernen. Sollte aber
ein Philosoph nur nach dem Spielwerk schöner Farben
laufen? -- Die vollkommensten Phänomene sind im-
mer am entferntesten von ihren geheimen Ursachen, und
die Natur glänzt niemals mehr, als indem sie ihre
Kunst mit der größten Sorgfalt verbirgt." --

"Und doch wollte Herr Newton die Farben tren-
nen, entwirren, zersetzen. Sollte ihn hier die Geome-
trie nicht betrogen haben? Eine Gleichung läßt sich in
mehrere Gleichungen auflösen; jemehr Farben, der Zahl
nach verschieden, ihm das Gespenst zeigte, für desto
einfacher, für desto zersetzter hielt er sie. Aber er
dachte nicht daran, daß die Natur mannigfaltig und
zahlreich in ihren Phänomenen, in ihren Ursachen sehr
einfach, fast unitarisch, höchstens und sehr oft trinita-
risch zu seyn pflege."

"Und doch ist das Prisma, wie ich gestehe, die
unmittelbare und unleugbare Ursache des Gespenstes;
aber hier hätte Herr Newton aufmerken und sehen sol-
len, daß die Farben nur erst in gevierter Zahl aus
dem Prisma hervortreten, sich dann aber vermischen,
um sieben hervorzubringen, zwölfe wenn man will, ja
eine Unzahl."

"Aber zu warten bis die Farben recht verwickelt
sind, um sie zu entwirren, mit Gefahr sie noch mehr

„Das Geſpenſt iſt ſchoͤner, ſeine Farben haben
mehr Einheit, mehr Glanz, mehr Entſchiedenheit, je-
mehr ſie ſich von der Quelle entfernen. Sollte aber
ein Philoſoph nur nach dem Spielwerk ſchoͤner Farben
laufen? — Die vollkommenſten Phaͤnomene ſind im-
mer am entfernteſten von ihren geheimen Urſachen, und
die Natur glaͤnzt niemals mehr, als indem ſie ihre
Kunſt mit der groͤßten Sorgfalt verbirgt.“ —

„Und doch wollte Herr Newton die Farben tren-
nen, entwirren, zerſetzen. Sollte ihn hier die Geome-
trie nicht betrogen haben? Eine Gleichung laͤßt ſich in
mehrere Gleichungen aufloͤſen; jemehr Farben, der Zahl
nach verſchieden, ihm das Geſpenſt zeigte, fuͤr deſto
einfacher, fuͤr deſto zerſetzter hielt er ſie. Aber er
dachte nicht daran, daß die Natur mannigfaltig und
zahlreich in ihren Phaͤnomenen, in ihren Urſachen ſehr
einfach, faſt unitariſch, hoͤchſtens und ſehr oft trinita-
riſch zu ſeyn pflege.“

„Und doch iſt das Prisma, wie ich geſtehe, die
unmittelbare und unleugbare Urſache des Geſpenſtes;
aber hier haͤtte Herr Newton aufmerken und ſehen ſol-
len, daß die Farben nur erſt in gevierter Zahl aus
dem Prisma hervortreten, ſich dann aber vermiſchen,
um ſieben hervorzubringen, zwoͤlfe wenn man will, ja
eine Unzahl.“

„Aber zu warten bis die Farben recht verwickelt
ſind, um ſie zu entwirren, mit Gefahr ſie noch mehr

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[532/0566] „Das Geſpenſt iſt ſchoͤner, ſeine Farben haben mehr Einheit, mehr Glanz, mehr Entſchiedenheit, je- mehr ſie ſich von der Quelle entfernen. Sollte aber ein Philoſoph nur nach dem Spielwerk ſchoͤner Farben laufen? — Die vollkommenſten Phaͤnomene ſind im- mer am entfernteſten von ihren geheimen Urſachen, und die Natur glaͤnzt niemals mehr, als indem ſie ihre Kunſt mit der groͤßten Sorgfalt verbirgt.“ — „Und doch wollte Herr Newton die Farben tren- nen, entwirren, zerſetzen. Sollte ihn hier die Geome- trie nicht betrogen haben? Eine Gleichung laͤßt ſich in mehrere Gleichungen aufloͤſen; jemehr Farben, der Zahl nach verſchieden, ihm das Geſpenſt zeigte, fuͤr deſto einfacher, fuͤr deſto zerſetzter hielt er ſie. Aber er dachte nicht daran, daß die Natur mannigfaltig und zahlreich in ihren Phaͤnomenen, in ihren Urſachen ſehr einfach, faſt unitariſch, hoͤchſtens und ſehr oft trinita- riſch zu ſeyn pflege.“ „Und doch iſt das Prisma, wie ich geſtehe, die unmittelbare und unleugbare Urſache des Geſpenſtes; aber hier haͤtte Herr Newton aufmerken und ſehen ſol- len, daß die Farben nur erſt in gevierter Zahl aus dem Prisma hervortreten, ſich dann aber vermiſchen, um ſieben hervorzubringen, zwoͤlfe wenn man will, ja eine Unzahl.“ „Aber zu warten bis die Farben recht verwickelt ſind, um ſie zu entwirren, mit Gefahr ſie noch mehr

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 532. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/566>, abgerufen am 22.11.2024.