regen, zu erschüttern. Gefühle, Thaten, Gegenwärti- ges, Vergangnes, Nahes und Entferntes, Erscheinun- gen der sittlichen und der physischen Welt, von allem mußte geschöpft, alles, wenn es auch nicht zu erschöp- fen war, oberflächlich gekostet werden.
Voltairens großes Talent sich auf alle Weise, sich in jeder Form zu communiciren, machte ihn für eine gewisse Zeit zum unumschränkten geistigen Herrn seiner Nation. Was er ihr anbot mußte sie aufnehmen; kein Widerstreben half: mit aller Kraft und Künstlich- keit wußte er seine Gegner bey Seite zu drängen, und was er dem Publicum nicht aufnöthigen konnte, das wußte er ihm aufzuschmeicheln, durch Gewöhnung an- zueignen.
Als Flüchtling fand er in England die beste Auf- nahme und jede Art von Unterstützung. Von dorther zurückgekehrt machte er sich's zur Pflicht, das Newto- nische Evangelium, das ohnehin schon die allgemeine Gunst erworben hatte, noch weiter auszubreiten, und vorzüglich die Farbenlehre den Gemüthern recht einzu- schärfen. Zu diesen physischen Studien scheint er beson- ders durch seine Freundinn, die Marquise Du Chatelet, geführt worden zu seyn; wobey jedoch merkwürdig ist, daß in ihren Institutions physiques, Amsterdam 1742. nichts von den Farben vorkommt. Es ist möglich, daß sie die Sache schon durch ihren Freund für völlig ab- gethan gehalten, dessen Bemühungen wir jedoch nicht umständlich recensiren, sondern nur mit wenigem ei- nen Begriff davon zu geben suchen.
regen, zu erſchuͤttern. Gefuͤhle, Thaten, Gegenwaͤrti- ges, Vergangnes, Nahes und Entferntes, Erſcheinun- gen der ſittlichen und der phyſiſchen Welt, von allem mußte geſchoͤpft, alles, wenn es auch nicht zu erſchoͤp- fen war, oberflaͤchlich gekoſtet werden.
Voltairens großes Talent ſich auf alle Weiſe, ſich in jeder Form zu communiciren, machte ihn fuͤr eine gewiſſe Zeit zum unumſchraͤnkten geiſtigen Herrn ſeiner Nation. Was er ihr anbot mußte ſie aufnehmen; kein Widerſtreben half: mit aller Kraft und Kuͤnſtlich- keit wußte er ſeine Gegner bey Seite zu draͤngen, und was er dem Publicum nicht aufnoͤthigen konnte, das wußte er ihm aufzuſchmeicheln, durch Gewoͤhnung an- zueignen.
Als Fluͤchtling fand er in England die beſte Auf- nahme und jede Art von Unterſtuͤtzung. Von dorther zuruͤckgekehrt machte er ſich’s zur Pflicht, das Newto- niſche Evangelium, das ohnehin ſchon die allgemeine Gunſt erworben hatte, noch weiter auszubreiten, und vorzuͤglich die Farbenlehre den Gemuͤthern recht einzu- ſchaͤrfen. Zu dieſen phyſiſchen Studien ſcheint er beſon- ders durch ſeine Freundinn, die Marquiſe Du Chatelet, gefuͤhrt worden zu ſeyn; wobey jedoch merkwuͤrdig iſt, daß in ihren Institutions physiques, Amsterdam 1742. nichts von den Farben vorkommt. Es iſt moͤglich, daß ſie die Sache ſchon durch ihren Freund fuͤr voͤllig ab- gethan gehalten, deſſen Bemuͤhungen wir jedoch nicht umſtaͤndlich recenſiren, ſondern nur mit wenigem ei- nen Begriff davon zu geben ſuchen.
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regen, zu erſchuͤttern. Gefuͤhle, Thaten, Gegenwaͤrti-
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gen der ſittlichen und der phyſiſchen Welt, von allem
mußte geſchoͤpft, alles, wenn es auch nicht zu erſchoͤp-
fen war, oberflaͤchlich gekoſtet werden.
Voltairens großes Talent ſich auf alle Weiſe, ſich
in jeder Form zu communiciren, machte ihn fuͤr eine
gewiſſe Zeit zum unumſchraͤnkten geiſtigen Herrn ſeiner
Nation. Was er ihr anbot mußte ſie aufnehmen;
kein Widerſtreben half: mit aller Kraft und Kuͤnſtlich-
keit wußte er ſeine Gegner bey Seite zu draͤngen, und
was er dem Publicum nicht aufnoͤthigen konnte, das
wußte er ihm aufzuſchmeicheln, durch Gewoͤhnung an-
zueignen.
Als Fluͤchtling fand er in England die beſte Auf-
nahme und jede Art von Unterſtuͤtzung. Von dorther
zuruͤckgekehrt machte er ſich’s zur Pflicht, das Newto-
niſche Evangelium, das ohnehin ſchon die allgemeine
Gunſt erworben hatte, noch weiter auszubreiten, und
vorzuͤglich die Farbenlehre den Gemuͤthern recht einzu-
ſchaͤrfen. Zu dieſen phyſiſchen Studien ſcheint er beſon-
ders durch ſeine Freundinn, die Marquiſe Du Chatelet,
gefuͤhrt worden zu ſeyn; wobey jedoch merkwuͤrdig iſt,
daß in ihren Institutions physiques, Amsterdam 1742.
nichts von den Farben vorkommt. Es iſt moͤglich, daß
ſie die Sache ſchon durch ihren Freund fuͤr voͤllig ab-
gethan gehalten, deſſen Bemuͤhungen wir jedoch nicht
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 514. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/548>, abgerufen am 25.11.2024.
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