das sich nicht schon in den optischen Lectionen fände, ja in diesen steht manches was in jener ausgelassen ward, weil es nicht in die künstliche Darstellung paßte, an welcher Newton dreyßig Jahre gearbeitet hat.
"Die Kunst Versuche zu machen, in einem gewissen Grade, ist keinesweges gemein. Das geringste Factum, das sich unsern Augen darbietet, ist aus so viel an- dern Facten verwickelt, die es zusammensetzen oder be- dingen, daß man ohne eine außerordentliche Gewandt- heit nicht alles was darin begriffen ist, entwickeln, noch ohne vorzüglichen Scharfsinn vermuthen kann, was alles darin begriffen seyn dürfte. Man muß das Factum wovon die Rede ist, in soviel andre trennen, die abermals zusammengesetzt sind, und manchmal, wenn man seinen Weg nicht gut gewählt hätte, würde man sich in Irrgänge einlassen, aus welchen man kei- nen Ausgang fände. Die ursprünglichen und elemen- taren Facta scheinen von der Natur mit so viel Sorg- falt wie die Ursachen versteckt worden zu seyn; und gelangt man endlich dahin sie zu sehen, so ist es ein ganz neues und überraschendes Schauspiel."
Dieser Periode, der dem Sinne nach allen Bey- fall verdient, wenn gleich die Art des Ausdrucks viel- leicht eine nähere Bestimmung erfoderte, paßt auf Newton nur dem Vorurtheil, keinesweges aber dem Verdienst nach: denn eben hier liegt der von uns er- wiesene, von ihm begangene Hauptfehler, daß er das Phänomen in seine einfachen Elemente nicht zerlegt
das ſich nicht ſchon in den optiſchen Lectionen faͤnde, ja in dieſen ſteht manches was in jener ausgelaſſen ward, weil es nicht in die kuͤnſtliche Darſtellung paßte, an welcher Newton dreyßig Jahre gearbeitet hat.
„Die Kunſt Verſuche zu machen, in einem gewiſſen Grade, iſt keinesweges gemein. Das geringſte Factum, das ſich unſern Augen darbietet, iſt aus ſo viel an- dern Facten verwickelt, die es zuſammenſetzen oder be- dingen, daß man ohne eine außerordentliche Gewandt- heit nicht alles was darin begriffen iſt, entwickeln, noch ohne vorzuͤglichen Scharfſinn vermuthen kann, was alles darin begriffen ſeyn duͤrfte. Man muß das Factum wovon die Rede iſt, in ſoviel andre trennen, die abermals zuſammengeſetzt ſind, und manchmal, wenn man ſeinen Weg nicht gut gewaͤhlt haͤtte, wuͤrde man ſich in Irrgaͤnge einlaſſen, aus welchen man kei- nen Ausgang faͤnde. Die urſpruͤnglichen und elemen- taren Facta ſcheinen von der Natur mit ſo viel Sorg- falt wie die Urſachen verſteckt worden zu ſeyn; und gelangt man endlich dahin ſie zu ſehen, ſo iſt es ein ganz neues und uͤberraſchendes Schauſpiel.“
Dieſer Periode, der dem Sinne nach allen Bey- fall verdient, wenn gleich die Art des Ausdrucks viel- leicht eine naͤhere Beſtimmung erfoderte, paßt auf Newton nur dem Vorurtheil, keinesweges aber dem Verdienſt nach: denn eben hier liegt der von uns er- wieſene, von ihm begangene Hauptfehler, daß er das Phaͤnomen in ſeine einfachen Elemente nicht zerlegt
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das ſich nicht ſchon in den optiſchen Lectionen faͤnde,
ja in dieſen ſteht manches was in jener ausgelaſſen
ward, weil es nicht in die kuͤnſtliche Darſtellung paßte,
an welcher Newton dreyßig Jahre gearbeitet hat.
„Die Kunſt Verſuche zu machen, in einem gewiſſen
Grade, iſt keinesweges gemein. Das geringſte Factum,
das ſich unſern Augen darbietet, iſt aus ſo viel an-
dern Facten verwickelt, die es zuſammenſetzen oder be-
dingen, daß man ohne eine außerordentliche Gewandt-
heit nicht alles was darin begriffen iſt, entwickeln,
noch ohne vorzuͤglichen Scharfſinn vermuthen kann,
was alles darin begriffen ſeyn duͤrfte. Man muß das
Factum wovon die Rede iſt, in ſoviel andre trennen,
die abermals zuſammengeſetzt ſind, und manchmal,
wenn man ſeinen Weg nicht gut gewaͤhlt haͤtte, wuͤrde
man ſich in Irrgaͤnge einlaſſen, aus welchen man kei-
nen Ausgang faͤnde. Die urſpruͤnglichen und elemen-
taren Facta ſcheinen von der Natur mit ſo viel Sorg-
falt wie die Urſachen verſteckt worden zu ſeyn; und
gelangt man endlich dahin ſie zu ſehen, ſo iſt es ein
ganz neues und uͤberraſchendes Schauſpiel.“
Dieſer Periode, der dem Sinne nach allen Bey-
fall verdient, wenn gleich die Art des Ausdrucks viel-
leicht eine naͤhere Beſtimmung erfoderte, paßt auf
Newton nur dem Vorurtheil, keinesweges aber dem
Verdienſt nach: denn eben hier liegt der von uns er-
wieſene, von ihm begangene Hauptfehler, daß er das
Phaͤnomen in ſeine einfachen Elemente nicht zerlegt
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 501. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/535>, abgerufen am 25.11.2024.
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