Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

Kinder, spielend behandeln, die uns vielleicht nicht
so lieb seyn würden, wenn sie nicht eben mit solchen
Unarten behaftet wären.

Diese Ironie, dieses Bewußtseyn, womit man
seinen Mängeln nachsieht, mit seinen Irrthümern scherzt
und ihnen destomehr Raum und Lauf läßt, weil man
sie doch am Ende zu beherrschen glaubt oder hofft,
kann von der klarsten Verruchtheit bis zur dumpfsten
Ahndung sich in mancherley Subjecten stufenweise fin-
den, und wir getrauten uns eine solche Galerie von
Characteren, nach lebendigen und abgeschiedenen Mu-
stern, wenn es nicht allzu verfänglich wäre, wohl auf-
zustellen. Wäre alsdann die Sache durch Beyspiele
völlig aufgeklärt, so würde uns Niemand verargen,
wenn er Newtonen auch in der Reihe fände, der eine
trübe Ahndung seines Unrechts gewiß gefühlt hat.

Denn wie wäre es einem der ersten Mathemati-
ker möglich, sich einer solchen Unmethode zu bedienen,
daß er schon in den optischen Lectionen, indem er die
diverse Refrangibilität festsetzen will, den Versuch mit
parallelen Mitteln, der ganz an den Anfang gehört,
weil die Farbenerscheinung sich da zuerst entwickelt,
ganz zuletzt bringt; wie konnte einer, dem es darum
zu thun gewesen wäre, seine Schüler mit den Phäno-
menen im ganzen Umfang bekannt zu machen, um dar-
auf eine haltbare Theorie zu bauen, wie konnte der
die subjectiven Phänomene gleichfalls erst gegen das
Ende und keineswegs in einem gewissen Parallelismus

Kinder, ſpielend behandeln, die uns vielleicht nicht
ſo lieb ſeyn wuͤrden, wenn ſie nicht eben mit ſolchen
Unarten behaftet waͤren.

Dieſe Ironie, dieſes Bewußtſeyn, womit man
ſeinen Maͤngeln nachſieht, mit ſeinen Irrthuͤmern ſcherzt
und ihnen deſtomehr Raum und Lauf laͤßt, weil man
ſie doch am Ende zu beherrſchen glaubt oder hofft,
kann von der klarſten Verruchtheit bis zur dumpfſten
Ahndung ſich in mancherley Subjecten ſtufenweiſe fin-
den, und wir getrauten uns eine ſolche Galerie von
Characteren, nach lebendigen und abgeſchiedenen Mu-
ſtern, wenn es nicht allzu verfaͤnglich waͤre, wohl auf-
zuſtellen. Waͤre alsdann die Sache durch Beyſpiele
voͤllig aufgeklaͤrt, ſo wuͤrde uns Niemand verargen,
wenn er Newtonen auch in der Reihe faͤnde, der eine
truͤbe Ahndung ſeines Unrechts gewiß gefuͤhlt hat.

Denn wie waͤre es einem der erſten Mathemati-
ker moͤglich, ſich einer ſolchen Unmethode zu bedienen,
daß er ſchon in den optiſchen Lectionen, indem er die
diverſe Refrangibilitaͤt feſtſetzen will, den Verſuch mit
parallelen Mitteln, der ganz an den Anfang gehoͤrt,
weil die Farbenerſcheinung ſich da zuerſt entwickelt,
ganz zuletzt bringt; wie konnte einer, dem es darum
zu thun geweſen waͤre, ſeine Schuͤler mit den Phaͤno-
menen im ganzen Umfang bekannt zu machen, um dar-
auf eine haltbare Theorie zu bauen, wie konnte der
die ſubjectiven Phaͤnomene gleichfalls erſt gegen das
Ende und keineswegs in einem gewiſſen Parallelismus

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0516" n="482"/>
Kinder, &#x017F;pielend behandeln, die uns vielleicht nicht<lb/>
&#x017F;o lieb &#x017F;eyn wu&#x0364;rden, wenn &#x017F;ie nicht eben mit &#x017F;olchen<lb/>
Unarten behaftet wa&#x0364;ren.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;e Ironie, die&#x017F;es Bewußt&#x017F;eyn, womit man<lb/>
&#x017F;einen Ma&#x0364;ngeln nach&#x017F;ieht, mit &#x017F;einen Irrthu&#x0364;mern &#x017F;cherzt<lb/>
und ihnen de&#x017F;tomehr Raum und Lauf la&#x0364;ßt, weil man<lb/>
&#x017F;ie doch am Ende zu beherr&#x017F;chen glaubt oder hofft,<lb/>
kann von der klar&#x017F;ten Verruchtheit bis zur dumpf&#x017F;ten<lb/>
Ahndung &#x017F;ich in mancherley Subjecten &#x017F;tufenwei&#x017F;e fin-<lb/>
den, und wir getrauten uns eine &#x017F;olche Galerie von<lb/>
Characteren, nach lebendigen und abge&#x017F;chiedenen Mu-<lb/>
&#x017F;tern, wenn es nicht allzu verfa&#x0364;nglich wa&#x0364;re, wohl auf-<lb/>
zu&#x017F;tellen. Wa&#x0364;re alsdann die Sache durch Bey&#x017F;piele<lb/>
vo&#x0364;llig aufgekla&#x0364;rt, &#x017F;o wu&#x0364;rde uns Niemand verargen,<lb/>
wenn er Newtonen auch in der Reihe fa&#x0364;nde, der eine<lb/>
tru&#x0364;be Ahndung &#x017F;eines Unrechts gewiß gefu&#x0364;hlt hat.</p><lb/>
            <p>Denn wie wa&#x0364;re es einem der er&#x017F;ten Mathemati-<lb/>
ker mo&#x0364;glich, &#x017F;ich einer &#x017F;olchen Unmethode zu bedienen,<lb/>
daß er &#x017F;chon in den opti&#x017F;chen Lectionen, indem er die<lb/>
diver&#x017F;e Refrangibilita&#x0364;t fe&#x017F;t&#x017F;etzen will, den Ver&#x017F;uch mit<lb/>
parallelen Mitteln, der ganz an den Anfang geho&#x0364;rt,<lb/>
weil die Farbener&#x017F;cheinung &#x017F;ich da zuer&#x017F;t entwickelt,<lb/>
ganz zuletzt bringt; wie konnte einer, dem es darum<lb/>
zu thun gewe&#x017F;en wa&#x0364;re, &#x017F;eine Schu&#x0364;ler mit den Pha&#x0364;no-<lb/>
menen im ganzen Umfang bekannt zu machen, um dar-<lb/>
auf eine haltbare Theorie zu bauen, wie konnte der<lb/>
die &#x017F;ubjectiven Pha&#x0364;nomene gleichfalls er&#x017F;t gegen das<lb/>
Ende und keineswegs in einem gewi&#x017F;&#x017F;en Parallelismus<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[482/0516] Kinder, ſpielend behandeln, die uns vielleicht nicht ſo lieb ſeyn wuͤrden, wenn ſie nicht eben mit ſolchen Unarten behaftet waͤren. Dieſe Ironie, dieſes Bewußtſeyn, womit man ſeinen Maͤngeln nachſieht, mit ſeinen Irrthuͤmern ſcherzt und ihnen deſtomehr Raum und Lauf laͤßt, weil man ſie doch am Ende zu beherrſchen glaubt oder hofft, kann von der klarſten Verruchtheit bis zur dumpfſten Ahndung ſich in mancherley Subjecten ſtufenweiſe fin- den, und wir getrauten uns eine ſolche Galerie von Characteren, nach lebendigen und abgeſchiedenen Mu- ſtern, wenn es nicht allzu verfaͤnglich waͤre, wohl auf- zuſtellen. Waͤre alsdann die Sache durch Beyſpiele voͤllig aufgeklaͤrt, ſo wuͤrde uns Niemand verargen, wenn er Newtonen auch in der Reihe faͤnde, der eine truͤbe Ahndung ſeines Unrechts gewiß gefuͤhlt hat. Denn wie waͤre es einem der erſten Mathemati- ker moͤglich, ſich einer ſolchen Unmethode zu bedienen, daß er ſchon in den optiſchen Lectionen, indem er die diverſe Refrangibilitaͤt feſtſetzen will, den Verſuch mit parallelen Mitteln, der ganz an den Anfang gehoͤrt, weil die Farbenerſcheinung ſich da zuerſt entwickelt, ganz zuletzt bringt; wie konnte einer, dem es darum zu thun geweſen waͤre, ſeine Schuͤler mit den Phaͤno- menen im ganzen Umfang bekannt zu machen, um dar- auf eine haltbare Theorie zu bauen, wie konnte der die ſubjectiven Phaͤnomene gleichfalls erſt gegen das Ende und keineswegs in einem gewiſſen Parallelismus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/516
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/516>, abgerufen am 25.11.2024.