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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Gewissen, desto mehr ziemt der Irrthum dem Menschen,
weil er nicht gewarnt ist. Das Irren wird nur be-
dauernswerth, ja es kann liebenswürdig erscheinen.

Aengstlich aber ist es anzusehen, wenn ein starker
Character, um sich selbst getreu zu bleiben, treulos ge-
gen die Welt wird, und um innerlich wahr zu seyn,
das Wirkliche für eine Lüge erklärt und sich dabey
ganz gleichgültig erzeigt, ob man ihn für halsstarrig,
verstockt, eigensinnig, oder für lächerlich halte. Demun-
geachtet bleibt der Character immer Character, er mag
das Rechte oder das Unrechte, das Wahre oder das
Falsche wollen und eifrig dafür arbeiten.

Allein hiermit ist noch nicht das ganze Räthsel
aufgelöst; noch ein Geheimnißvolleres liegt dahinter.
Es kann sich nämlich im Menschen ein höheres Be-
wußtseyn finden, so daß er über die nothwendige ihm
einwohnende Natur, an der er durch alle Freyheit
nichts zu verändern vermag, eine gewisse Uebersicht
erhält. Hierüber völlig ins Klare zu kommen ist bey-
nahe unmöglich; sich in einzelnen Augenblicken zu
schelten, geht wohl an, aber Niemanden ist gegeben,
sich fortwährend zu tadeln. Greift man nicht zu dem
gemeinen Mittel, seine Mängel auf die Umstände, auf
andere Menschen zu schieben; so entsteht zuletzt aus
dem Conflict eines vernünftig richtenden Bewußtseyns
mit der zwar modificablen aber doch unveränderlichen
Natur eine Art von Ironie in und mit uns selbst, so
daß wir unsere Fehler und Irrthümer, wie ungezogene

II. 31

Gewiſſen, deſto mehr ziemt der Irrthum dem Menſchen,
weil er nicht gewarnt iſt. Das Irren wird nur be-
dauernswerth, ja es kann liebenswuͤrdig erſcheinen.

Aengſtlich aber iſt es anzuſehen, wenn ein ſtarker
Character, um ſich ſelbſt getreu zu bleiben, treulos ge-
gen die Welt wird, und um innerlich wahr zu ſeyn,
das Wirkliche fuͤr eine Luͤge erklaͤrt und ſich dabey
ganz gleichguͤltig erzeigt, ob man ihn fuͤr halsſtarrig,
verſtockt, eigenſinnig, oder fuͤr laͤcherlich halte. Demun-
geachtet bleibt der Character immer Character, er mag
das Rechte oder das Unrechte, das Wahre oder das
Falſche wollen und eifrig dafuͤr arbeiten.

Allein hiermit iſt noch nicht das ganze Raͤthſel
aufgeloͤſt; noch ein Geheimnißvolleres liegt dahinter.
Es kann ſich naͤmlich im Menſchen ein hoͤheres Be-
wußtſeyn finden, ſo daß er uͤber die nothwendige ihm
einwohnende Natur, an der er durch alle Freyheit
nichts zu veraͤndern vermag, eine gewiſſe Ueberſicht
erhaͤlt. Hieruͤber voͤllig ins Klare zu kommen iſt bey-
nahe unmoͤglich; ſich in einzelnen Augenblicken zu
ſchelten, geht wohl an, aber Niemanden iſt gegeben,
ſich fortwaͤhrend zu tadeln. Greift man nicht zu dem
gemeinen Mittel, ſeine Maͤngel auf die Umſtaͤnde, auf
andere Menſchen zu ſchieben; ſo entſteht zuletzt aus
dem Conflict eines vernuͤnftig richtenden Bewußtſeyns
mit der zwar modificablen aber doch unveraͤnderlichen
Natur eine Art von Ironie in und mit uns ſelbſt, ſo
daß wir unſere Fehler und Irrthuͤmer, wie ungezogene

II. 31
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[481/0515] Gewiſſen, deſto mehr ziemt der Irrthum dem Menſchen, weil er nicht gewarnt iſt. Das Irren wird nur be- dauernswerth, ja es kann liebenswuͤrdig erſcheinen. Aengſtlich aber iſt es anzuſehen, wenn ein ſtarker Character, um ſich ſelbſt getreu zu bleiben, treulos ge- gen die Welt wird, und um innerlich wahr zu ſeyn, das Wirkliche fuͤr eine Luͤge erklaͤrt und ſich dabey ganz gleichguͤltig erzeigt, ob man ihn fuͤr halsſtarrig, verſtockt, eigenſinnig, oder fuͤr laͤcherlich halte. Demun- geachtet bleibt der Character immer Character, er mag das Rechte oder das Unrechte, das Wahre oder das Falſche wollen und eifrig dafuͤr arbeiten. Allein hiermit iſt noch nicht das ganze Raͤthſel aufgeloͤſt; noch ein Geheimnißvolleres liegt dahinter. Es kann ſich naͤmlich im Menſchen ein hoͤheres Be- wußtſeyn finden, ſo daß er uͤber die nothwendige ihm einwohnende Natur, an der er durch alle Freyheit nichts zu veraͤndern vermag, eine gewiſſe Ueberſicht erhaͤlt. Hieruͤber voͤllig ins Klare zu kommen iſt bey- nahe unmoͤglich; ſich in einzelnen Augenblicken zu ſchelten, geht wohl an, aber Niemanden iſt gegeben, ſich fortwaͤhrend zu tadeln. Greift man nicht zu dem gemeinen Mittel, ſeine Maͤngel auf die Umſtaͤnde, auf andere Menſchen zu ſchieben; ſo entſteht zuletzt aus dem Conflict eines vernuͤnftig richtenden Bewußtſeyns mit der zwar modificablen aber doch unveraͤnderlichen Natur eine Art von Ironie in und mit uns ſelbſt, ſo daß wir unſere Fehler und Irrthuͤmer, wie ungezogene II. 31

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 481. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/515>, abgerufen am 22.11.2024.