Und hier tritt nun ein ethisches Haupträthsel ein, das aber demjenigen, der in die Abgründe der mensch- lichen Natur zu blicken wagte, nicht unauflösbar bleibt. Wir haben in der Heftigkeit des Polemisirens New- tonen sogar einige Unredlichkeit vorgeworfen; wir spre- chen gegenwärtig wieder von nicht geachteten inneren Warnungen, und wie wäre dieß mit der übrigens an- erkannten Moralität eines solchen Mannes zu ver- binden?
Der Mensch ist dem Irren unterworfen, und wie er in einer Folge, wie er anhaltend irrt, so wird er sogleich falsch gegen sich und gegen andere; dieser Irrthum mag in Meynungen oder in Neigungen be- stehen. Von Neigungen wird es uns deutlicher, weil nicht leicht Jemand seyn wird, der eine solche Erfah- rung nicht an sich gemacht hätte. Man widme einer Person mehr Liebe, mehr Achtung als sie verdient, so- gleich muß man falsch gegen sich und andre werden: man ist genöthigt auffallende Mängel als Vorzüge zu betrachten und sie bey sich wie bey andern dafür gel- ten zu machen.
Dagegen lassen Vernunft und Gewissen sich ihre Rechte nicht nehmen. Man kann sie belügen aber nicht täuschen. Ja wir thun nicht zu viel, wenn wir sagen: je moralischer, je vernünftiger der Mensch ist, desto lügenhafter wird er, sobald er irrt, desto unge- heurer muß der Irrthum werden, sobald er darin ver- harrt; und je schwächer die Vernunft, je stumpfer das
Und hier tritt nun ein ethiſches Hauptraͤthſel ein, das aber demjenigen, der in die Abgruͤnde der menſch- lichen Natur zu blicken wagte, nicht unaufloͤsbar bleibt. Wir haben in der Heftigkeit des Polemiſirens New- tonen ſogar einige Unredlichkeit vorgeworfen; wir ſpre- chen gegenwaͤrtig wieder von nicht geachteten inneren Warnungen, und wie waͤre dieß mit der uͤbrigens an- erkannten Moralitaͤt eines ſolchen Mannes zu ver- binden?
Der Menſch iſt dem Irren unterworfen, und wie er in einer Folge, wie er anhaltend irrt, ſo wird er ſogleich falſch gegen ſich und gegen andere; dieſer Irrthum mag in Meynungen oder in Neigungen be- ſtehen. Von Neigungen wird es uns deutlicher, weil nicht leicht Jemand ſeyn wird, der eine ſolche Erfah- rung nicht an ſich gemacht haͤtte. Man widme einer Perſon mehr Liebe, mehr Achtung als ſie verdient, ſo- gleich muß man falſch gegen ſich und andre werden: man iſt genoͤthigt auffallende Maͤngel als Vorzuͤge zu betrachten und ſie bey ſich wie bey andern dafuͤr gel- ten zu machen.
Dagegen laſſen Vernunft und Gewiſſen ſich ihre Rechte nicht nehmen. Man kann ſie beluͤgen aber nicht taͤuſchen. Ja wir thun nicht zu viel, wenn wir ſagen: je moraliſcher, je vernuͤnftiger der Menſch iſt, deſto luͤgenhafter wird er, ſobald er irrt, deſto unge- heurer muß der Irrthum werden, ſobald er darin ver- harrt; und je ſchwaͤcher die Vernunft, je ſtumpfer das
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Und hier tritt nun ein ethiſches Hauptraͤthſel ein,
das aber demjenigen, der in die Abgruͤnde der menſch-
lichen Natur zu blicken wagte, nicht unaufloͤsbar bleibt.
Wir haben in der Heftigkeit des Polemiſirens New-
tonen ſogar einige Unredlichkeit vorgeworfen; wir ſpre-
chen gegenwaͤrtig wieder von nicht geachteten inneren
Warnungen, und wie waͤre dieß mit der uͤbrigens an-
erkannten Moralitaͤt eines ſolchen Mannes zu ver-
binden?
Der Menſch iſt dem Irren unterworfen, und
wie er in einer Folge, wie er anhaltend irrt, ſo wird
er ſogleich falſch gegen ſich und gegen andere; dieſer
Irrthum mag in Meynungen oder in Neigungen be-
ſtehen. Von Neigungen wird es uns deutlicher, weil
nicht leicht Jemand ſeyn wird, der eine ſolche Erfah-
rung nicht an ſich gemacht haͤtte. Man widme einer
Perſon mehr Liebe, mehr Achtung als ſie verdient, ſo-
gleich muß man falſch gegen ſich und andre werden:
man iſt genoͤthigt auffallende Maͤngel als Vorzuͤge zu
betrachten und ſie bey ſich wie bey andern dafuͤr gel-
ten zu machen.
Dagegen laſſen Vernunft und Gewiſſen ſich ihre
Rechte nicht nehmen. Man kann ſie beluͤgen aber
nicht taͤuſchen. Ja wir thun nicht zu viel, wenn wir
ſagen: je moraliſcher, je vernuͤnftiger der Menſch iſt,
deſto luͤgenhafter wird er, ſobald er irrt, deſto unge-
heurer muß der Irrthum werden, ſobald er darin ver-
harrt; und je ſchwaͤcher die Vernunft, je ſtumpfer das
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 480. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/514>, abgerufen am 25.11.2024.
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