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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Massen sind etwas allen Sinneswahrnehmungen gemei-
nes, oder wenn nicht allen, doch dem Gesichte und
Gefühl. Darum täuschen diese beyden Sinne sich zwar
hierüber, nicht aber über das jedem eigenthümliche,
z. E. das Gesicht nicht über die Farbe, das Gehör
nicht über den Schall. Jene Physiologen aber werfen
das Eigenthümliche mit dem Gemeinschaftlichen zusam-
men, wie Democritus. Vom Weißen nehmlich und
Schwarzen behauptet er, dieses sey rauh und jenes
glatt. Auch die Geschmäcke bringt er auf Gestalten zu-
rück. Wiewohl es des Gesichtes mehr als jedes andern
Sinnes Eigenschaft ist, das Gemeinsame zu erkennen.
Sollte es nun mehr des Geschmackes Sache seyn; so
müßte, da das kleinste in jeglicher Art zu unterscheiden,
dem schärfsten Sinne angehört, der Geschmack zumeist
das übrige gemeinsame empfinden und über die Gestalt
der vollkommenste Richter seyn. Ferner alles Empfind-
bare hat Gegensätze, z. E. in der Farbe, ist dem
Schwarzen das Weiße, im Geschmack, das Süße dem
Bittern entgegen; Gestalt aber scheint kein Gegensatz
von Gestalt zu seyn. Denn welchem Eck steht der Zirkel
entgegen? Ferner da die Gestalten unendlich sind, müß-
ten auch die Geschmäcke unendlich seyn: denn warum
sollte man von den schmeckbaren Dingen einige empfin-
den, andre aber nicht? --


Sichtbar ist, wessen allein das Gesicht ist. Sicht-
bar ist aber die Farbe und etwas das sich zwar be-
schreiben läßt, aber keinen eigenen Nahmen hat. Was

Maſſen ſind etwas allen Sinneswahrnehmungen gemei-
nes, oder wenn nicht allen, doch dem Geſichte und
Gefuͤhl. Darum taͤuſchen dieſe beyden Sinne ſich zwar
hieruͤber, nicht aber uͤber das jedem eigenthuͤmliche,
z. E. das Geſicht nicht uͤber die Farbe, das Gehoͤr
nicht uͤber den Schall. Jene Phyſiologen aber werfen
das Eigenthuͤmliche mit dem Gemeinſchaftlichen zuſam-
men, wie Democritus. Vom Weißen nehmlich und
Schwarzen behauptet er, dieſes ſey rauh und jenes
glatt. Auch die Geſchmaͤcke bringt er auf Geſtalten zu-
ruͤck. Wiewohl es des Geſichtes mehr als jedes andern
Sinnes Eigenſchaft iſt, das Gemeinſame zu erkennen.
Sollte es nun mehr des Geſchmackes Sache ſeyn; ſo
muͤßte, da das kleinſte in jeglicher Art zu unterſcheiden,
dem ſchaͤrfſten Sinne angehoͤrt, der Geſchmack zumeiſt
das uͤbrige gemeinſame empfinden und uͤber die Geſtalt
der vollkommenſte Richter ſeyn. Ferner alles Empfind-
bare hat Gegenſaͤtze, z. E. in der Farbe, iſt dem
Schwarzen das Weiße, im Geſchmack, das Suͤße dem
Bittern entgegen; Geſtalt aber ſcheint kein Gegenſatz
von Geſtalt zu ſeyn. Denn welchem Eck ſteht der Zirkel
entgegen? Ferner da die Geſtalten unendlich ſind, muͤß-
ten auch die Geſchmaͤcke unendlich ſeyn: denn warum
ſollte man von den ſchmeckbaren Dingen einige empfin-
den, andre aber nicht? —


Sichtbar iſt, weſſen allein das Geſicht iſt. Sicht-
bar iſt aber die Farbe und etwas das ſich zwar be-
ſchreiben laͤßt, aber keinen eigenen Nahmen hat. Was

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[13/0047] Maſſen ſind etwas allen Sinneswahrnehmungen gemei- nes, oder wenn nicht allen, doch dem Geſichte und Gefuͤhl. Darum taͤuſchen dieſe beyden Sinne ſich zwar hieruͤber, nicht aber uͤber das jedem eigenthuͤmliche, z. E. das Geſicht nicht uͤber die Farbe, das Gehoͤr nicht uͤber den Schall. Jene Phyſiologen aber werfen das Eigenthuͤmliche mit dem Gemeinſchaftlichen zuſam- men, wie Democritus. Vom Weißen nehmlich und Schwarzen behauptet er, dieſes ſey rauh und jenes glatt. Auch die Geſchmaͤcke bringt er auf Geſtalten zu- ruͤck. Wiewohl es des Geſichtes mehr als jedes andern Sinnes Eigenſchaft iſt, das Gemeinſame zu erkennen. Sollte es nun mehr des Geſchmackes Sache ſeyn; ſo muͤßte, da das kleinſte in jeglicher Art zu unterſcheiden, dem ſchaͤrfſten Sinne angehoͤrt, der Geſchmack zumeiſt das uͤbrige gemeinſame empfinden und uͤber die Geſtalt der vollkommenſte Richter ſeyn. Ferner alles Empfind- bare hat Gegenſaͤtze, z. E. in der Farbe, iſt dem Schwarzen das Weiße, im Geſchmack, das Suͤße dem Bittern entgegen; Geſtalt aber ſcheint kein Gegenſatz von Geſtalt zu ſeyn. Denn welchem Eck ſteht der Zirkel entgegen? Ferner da die Geſtalten unendlich ſind, muͤß- ten auch die Geſchmaͤcke unendlich ſeyn: denn warum ſollte man von den ſchmeckbaren Dingen einige empfin- den, andre aber nicht? — Sichtbar iſt, weſſen allein das Geſicht iſt. Sicht- bar iſt aber die Farbe und etwas das ſich zwar be- ſchreiben laͤßt, aber keinen eigenen Nahmen hat. Was

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/47>, abgerufen am 21.11.2024.