Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

Da sich Nüguet jedoch dem rein Wahren nur an-
zunähern vermag, da ihm eine vollkommene Einsicht
abgeht, da er hie und da in Schwanken und Irren
geräth; so bedarf man gegen ihn einer durchgehenden
Nachsicht. Hier muß man einen Schritt weiter gehen,
hier ihn suppliren, hier ihn rectificiren. Indem wir
diese unterhaltende und übende Bemühung unsern Le-
sern überlassen, machen wir nur auf einige Hauptmo-
mente aufmerksam.

In seinem fünften Puncte bemerkt er ganz richtig,
daß im prismatischen Bilde Gelb und Blau mehr dem
Lichte, Roth und Violett mehr dem Schatten angehö-
ren; daß das Rothe sich von dem Schatten entfernt,
daß das Violette sich gegen den Schatten bewegt, der
ihm unmittelbar begegnet. Freylich entsteht, nach
unsrer gegenwärtigen Einsicht, das Rothe, weil sich
ein trübes Doppelbild über das Licht, das Violette,
weil sich ein trübes Doppelbild über das Dunkle be-
wegt, und so sprechen wir die nächste Ursache dieser
Farbenerscheinung aus; aber wir müssen doch Nüguet
zugestehen, daß ihm die nothwendige Bedingung der
Erscheinung vorgeschwebt, daß er auf dasjenige was
dabey vorgeht, besser als einer seiner Vorgänger auf-
gemerkt.

Sein sechster Punct enthält die sämmtlichen Ele-
mente der farbigen Schatten. Hier ist ihm nicht
aufgegangen, was dabey physiologisch ist; auch hat
er nicht einmal die zufälligen Erscheinungen, welche

Da ſich Nuͤguet jedoch dem rein Wahren nur an-
zunaͤhern vermag, da ihm eine vollkommene Einſicht
abgeht, da er hie und da in Schwanken und Irren
geraͤth; ſo bedarf man gegen ihn einer durchgehenden
Nachſicht. Hier muß man einen Schritt weiter gehen,
hier ihn ſuppliren, hier ihn rectificiren. Indem wir
dieſe unterhaltende und uͤbende Bemuͤhung unſern Le-
ſern uͤberlaſſen, machen wir nur auf einige Hauptmo-
mente aufmerkſam.

In ſeinem fuͤnften Puncte bemerkt er ganz richtig,
daß im prismatiſchen Bilde Gelb und Blau mehr dem
Lichte, Roth und Violett mehr dem Schatten angehoͤ-
ren; daß das Rothe ſich von dem Schatten entfernt,
daß das Violette ſich gegen den Schatten bewegt, der
ihm unmittelbar begegnet. Freylich entſteht, nach
unſrer gegenwaͤrtigen Einſicht, das Rothe, weil ſich
ein truͤbes Doppelbild uͤber das Licht, das Violette,
weil ſich ein truͤbes Doppelbild uͤber das Dunkle be-
wegt, und ſo ſprechen wir die naͤchſte Urſache dieſer
Farbenerſcheinung aus; aber wir muͤſſen doch Nuͤguet
zugeſtehen, daß ihm die nothwendige Bedingung der
Erſcheinung vorgeſchwebt, daß er auf dasjenige was
dabey vorgeht, beſſer als einer ſeiner Vorgaͤnger auf-
gemerkt.

Sein ſechſter Punct enthaͤlt die ſaͤmmtlichen Ele-
mente der farbigen Schatten. Hier iſt ihm nicht
aufgegangen, was dabey phyſiologiſch iſt; auch hat
er nicht einmal die zufaͤlligen Erſcheinungen, welche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0378" n="344"/>
          <p>Da &#x017F;ich Nu&#x0364;guet jedoch dem rein Wahren nur an-<lb/>
zuna&#x0364;hern vermag, da ihm eine vollkommene Ein&#x017F;icht<lb/>
abgeht, da er hie und da in Schwanken und Irren<lb/>
gera&#x0364;th; &#x017F;o bedarf man gegen ihn einer durchgehenden<lb/>
Nach&#x017F;icht. Hier muß man einen Schritt weiter gehen,<lb/>
hier ihn &#x017F;uppliren, hier ihn rectificiren. Indem wir<lb/>
die&#x017F;e unterhaltende und u&#x0364;bende Bemu&#x0364;hung un&#x017F;ern Le-<lb/>
&#x017F;ern u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;en, machen wir nur auf einige Hauptmo-<lb/>
mente aufmerk&#x017F;am.</p><lb/>
          <p>In &#x017F;einem fu&#x0364;nften Puncte bemerkt er ganz richtig,<lb/>
daß im prismati&#x017F;chen Bilde Gelb und Blau mehr dem<lb/>
Lichte, Roth und Violett mehr dem Schatten angeho&#x0364;-<lb/>
ren; daß das Rothe &#x017F;ich von dem Schatten entfernt,<lb/>
daß das Violette &#x017F;ich gegen den Schatten bewegt, der<lb/>
ihm unmittelbar begegnet. Freylich ent&#x017F;teht, nach<lb/>
un&#x017F;rer gegenwa&#x0364;rtigen Ein&#x017F;icht, das Rothe, weil &#x017F;ich<lb/>
ein tru&#x0364;bes Doppelbild u&#x0364;ber das Licht, das Violette,<lb/>
weil &#x017F;ich ein tru&#x0364;bes Doppelbild u&#x0364;ber das Dunkle be-<lb/>
wegt, und &#x017F;o &#x017F;prechen wir die na&#x0364;ch&#x017F;te Ur&#x017F;ache die&#x017F;er<lb/>
Farbener&#x017F;cheinung aus; aber wir mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en doch Nu&#x0364;guet<lb/>
zuge&#x017F;tehen, daß ihm die nothwendige Bedingung der<lb/>
Er&#x017F;cheinung vorge&#x017F;chwebt, daß er auf dasjenige was<lb/>
dabey vorgeht, be&#x017F;&#x017F;er als einer &#x017F;einer Vorga&#x0364;nger auf-<lb/>
gemerkt.</p><lb/>
          <p>Sein &#x017F;ech&#x017F;ter Punct entha&#x0364;lt die &#x017F;a&#x0364;mmtlichen Ele-<lb/>
mente der farbigen Schatten. Hier i&#x017F;t ihm nicht<lb/>
aufgegangen, was dabey phy&#x017F;iologi&#x017F;ch i&#x017F;t; auch hat<lb/>
er nicht einmal die zufa&#x0364;lligen Er&#x017F;cheinungen, welche<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[344/0378] Da ſich Nuͤguet jedoch dem rein Wahren nur an- zunaͤhern vermag, da ihm eine vollkommene Einſicht abgeht, da er hie und da in Schwanken und Irren geraͤth; ſo bedarf man gegen ihn einer durchgehenden Nachſicht. Hier muß man einen Schritt weiter gehen, hier ihn ſuppliren, hier ihn rectificiren. Indem wir dieſe unterhaltende und uͤbende Bemuͤhung unſern Le- ſern uͤberlaſſen, machen wir nur auf einige Hauptmo- mente aufmerkſam. In ſeinem fuͤnften Puncte bemerkt er ganz richtig, daß im prismatiſchen Bilde Gelb und Blau mehr dem Lichte, Roth und Violett mehr dem Schatten angehoͤ- ren; daß das Rothe ſich von dem Schatten entfernt, daß das Violette ſich gegen den Schatten bewegt, der ihm unmittelbar begegnet. Freylich entſteht, nach unſrer gegenwaͤrtigen Einſicht, das Rothe, weil ſich ein truͤbes Doppelbild uͤber das Licht, das Violette, weil ſich ein truͤbes Doppelbild uͤber das Dunkle be- wegt, und ſo ſprechen wir die naͤchſte Urſache dieſer Farbenerſcheinung aus; aber wir muͤſſen doch Nuͤguet zugeſtehen, daß ihm die nothwendige Bedingung der Erſcheinung vorgeſchwebt, daß er auf dasjenige was dabey vorgeht, beſſer als einer ſeiner Vorgaͤnger auf- gemerkt. Sein ſechſter Punct enthaͤlt die ſaͤmmtlichen Ele- mente der farbigen Schatten. Hier iſt ihm nicht aufgegangen, was dabey phyſiologiſch iſt; auch hat er nicht einmal die zufaͤlligen Erſcheinungen, welche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/378
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/378>, abgerufen am 24.11.2024.