daran, wie etwa an einem poetischen Gleichnisse, er- getzen. Doch wir müssen diese Denkart, diesen Ausdruck bis zu ihrer Quelle verfolgen.
Man erinnere sich, was wir oben von der Lehre des Roger Baco mitgetheilt, die wir bey ihm auf- gegriffen haben, weil sie uns da zunächst im Wege lag, ob sie sich gleich von weit früheren Zeiten her- schreibt: daß sich nämlich jede Tugend, jede Kraft, jede Tüchtigkeit, alles dem man ein Wesen, ein Da- seyn zuschreiben kann, ins unendliche vervielfältigt und zwar dadurch, daß immerfort Gleichbilder, Gleichnisse, Abbildungen als zweyte Selbstheiten von ihm ausgehen, dergestalt daß diese Abbilder sich wieder darstellen, wirksam werden, und indem sie immer fort und fort reflectiren, diese Welt der Erscheinungen ausmachen. Nun liegt zwischen der wirkenden Tugend und zwischen dem gewirkten Abbild ein Drittes in der Mitte, das aus der Wirklichkeit des Ersten und aus der Möglich- keit des Zweyten zusammengesetzt scheint. Für dieses Dritte, was zugleich ist und nicht ist, was zugleich wirkt und unwirksam bleiben kann, was zugleich das allerhöchste Schaffende und in demselben Augenblicke ein vollkommenes Nichts ist, hat man kein schick- licheres Gleichniß finden können, als das menschliche Wollen, welches alle jene Widersprüche in sich verei- nigt. Und so hat man auch den wirksamen Naturgegen- ständen, besonders denjenigen, die uns als thätige Bil- der zu erscheinen pflegen, dem Lichte so wie dem Erleuch- teten, welche beyde nach allen Orten hin sich zu äußern
daran, wie etwa an einem poetiſchen Gleichniſſe, er- getzen. Doch wir muͤſſen dieſe Denkart, dieſen Ausdruck bis zu ihrer Quelle verfolgen.
Man erinnere ſich, was wir oben von der Lehre des Roger Baco mitgetheilt, die wir bey ihm auf- gegriffen haben, weil ſie uns da zunaͤchſt im Wege lag, ob ſie ſich gleich von weit fruͤheren Zeiten her- ſchreibt: daß ſich naͤmlich jede Tugend, jede Kraft, jede Tuͤchtigkeit, alles dem man ein Weſen, ein Da- ſeyn zuſchreiben kann, ins unendliche vervielfaͤltigt und zwar dadurch, daß immerfort Gleichbilder, Gleichniſſe, Abbildungen als zweyte Selbſtheiten von ihm ausgehen, dergeſtalt daß dieſe Abbilder ſich wieder darſtellen, wirkſam werden, und indem ſie immer fort und fort reflectiren, dieſe Welt der Erſcheinungen ausmachen. Nun liegt zwiſchen der wirkenden Tugend und zwiſchen dem gewirkten Abbild ein Drittes in der Mitte, das aus der Wirklichkeit des Erſten und aus der Moͤglich- keit des Zweyten zuſammengeſetzt ſcheint. Fuͤr dieſes Dritte, was zugleich iſt und nicht iſt, was zugleich wirkt und unwirkſam bleiben kann, was zugleich das allerhoͤchſte Schaffende und in demſelben Augenblicke ein vollkommenes Nichts iſt, hat man kein ſchick- licheres Gleichniß finden koͤnnen, als das menſchliche Wollen, welches alle jene Widerſpruͤche in ſich verei- nigt. Und ſo hat man auch den wirkſamen Naturgegen- ſtaͤnden, beſonders denjenigen, die uns als thaͤtige Bil- der zu erſcheinen pflegen, dem Lichte ſo wie dem Erleuch- teten, welche beyde nach allen Orten hin ſich zu aͤußern
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daran, wie etwa an einem poetiſchen Gleichniſſe, er-
getzen. Doch wir muͤſſen dieſe Denkart, dieſen Ausdruck
bis zu ihrer Quelle verfolgen.
Man erinnere ſich, was wir oben von der Lehre
des Roger Baco mitgetheilt, die wir bey ihm auf-
gegriffen haben, weil ſie uns da zunaͤchſt im Wege
lag, ob ſie ſich gleich von weit fruͤheren Zeiten her-
ſchreibt: daß ſich naͤmlich jede Tugend, jede Kraft,
jede Tuͤchtigkeit, alles dem man ein Weſen, ein Da-
ſeyn zuſchreiben kann, ins unendliche vervielfaͤltigt und
zwar dadurch, daß immerfort Gleichbilder, Gleichniſſe,
Abbildungen als zweyte Selbſtheiten von ihm ausgehen,
dergeſtalt daß dieſe Abbilder ſich wieder darſtellen,
wirkſam werden, und indem ſie immer fort und fort
reflectiren, dieſe Welt der Erſcheinungen ausmachen.
Nun liegt zwiſchen der wirkenden Tugend und zwiſchen
dem gewirkten Abbild ein Drittes in der Mitte, das
aus der Wirklichkeit des Erſten und aus der Moͤglich-
keit des Zweyten zuſammengeſetzt ſcheint. Fuͤr dieſes
Dritte, was zugleich iſt und nicht iſt, was zugleich
wirkt und unwirkſam bleiben kann, was zugleich das
allerhoͤchſte Schaffende und in demſelben Augenblicke
ein vollkommenes Nichts iſt, hat man kein ſchick-
licheres Gleichniß finden koͤnnen, als das menſchliche
Wollen, welches alle jene Widerſpruͤche in ſich verei-
nigt. Und ſo hat man auch den wirkſamen Naturgegen-
ſtaͤnden, beſonders denjenigen, die uns als thaͤtige Bil-
der zu erſcheinen pflegen, dem Lichte ſo wie dem Erleuch-
teten, welche beyde nach allen Orten hin ſich zu aͤußern
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/303>, abgerufen am 22.11.2024.
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