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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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und ein guter Kopf konnte sich die eine oder die andre
zur Nachfolge wählen, je nachdem sie ihm seiner Denk-
weise gemäß schien. Dennoch hatte Autorität im All-
gemeinen so großes Gewicht, daß man kaum etwas
zu behaupten unternahm, was nicht früher von einem
Alten schon geäußert worden; wobey man jedoch zu
bemerken nicht unterlassen kann, daß sie den abgeschlos-
senen Kreis menschlicher Vorstellungsarten völlig, wenn
gleich oft nur flüchtig und genialisch, durchlaufen hat-
ten, so daß der Neuere, indem er sie näher kennen
lernt, seine geglaubte Originalität oft beschämt sieht.

Daß die Elemente, wonach Aristoteles und die sei-
nigen die Anfänge der Dinge darstellen und eintheilen
wollen, empirischen, und wenn man will, poetischen
Ursprungs seyen, war einem frey aufblickenden Geiste
nicht schwer zu entdecken. Telesius fühlte, daß man,
um zu Anfängen zu gelangen, ins Einfachere gehen
müsse. Er setzt daher die Materie voraus und stellt
sie unter den Einfluß von zwey empfindbaren aber un-
greiflichen Principien, der Wärme und der Kälte. Was
er hiebey frühern Ueberlieferungen schuldig, lassen wir
unausgemacht.

Genug er faßte jene geheimnißvolle Systole und
Diastole, aus der sich alle Erscheinungen entwickeln,
gleichfalls unter einer empirischen Form auf, die aber
doch, weil sie sehr allgemein ist, und die Begriffe von
Ausdehnung und Zusammenziehung, von Solidescenz
und Liquescenz hinter sich hat, sehr fruchtbar ist und
eine höchst mannigfaltige Anwendung leidet.

und ein guter Kopf konnte ſich die eine oder die andre
zur Nachfolge waͤhlen, je nachdem ſie ihm ſeiner Denk-
weiſe gemaͤß ſchien. Dennoch hatte Autoritaͤt im All-
gemeinen ſo großes Gewicht, daß man kaum etwas
zu behaupten unternahm, was nicht fruͤher von einem
Alten ſchon geaͤußert worden; wobey man jedoch zu
bemerken nicht unterlaſſen kann, daß ſie den abgeſchloſ-
ſenen Kreis menſchlicher Vorſtellungsarten voͤllig, wenn
gleich oft nur fluͤchtig und genialiſch, durchlaufen hat-
ten, ſo daß der Neuere, indem er ſie naͤher kennen
lernt, ſeine geglaubte Originalitaͤt oft beſchaͤmt ſieht.

Daß die Elemente, wonach Ariſtoteles und die ſei-
nigen die Anfaͤnge der Dinge darſtellen und eintheilen
wollen, empiriſchen, und wenn man will, poetiſchen
Urſprungs ſeyen, war einem frey aufblickenden Geiſte
nicht ſchwer zu entdecken. Teleſius fuͤhlte, daß man,
um zu Anfaͤngen zu gelangen, ins Einfachere gehen
muͤſſe. Er ſetzt daher die Materie voraus und ſtellt
ſie unter den Einfluß von zwey empfindbaren aber un-
greiflichen Principien, der Waͤrme und der Kaͤlte. Was
er hiebey fruͤhern Ueberlieferungen ſchuldig, laſſen wir
unausgemacht.

Genug er faßte jene geheimnißvolle Syſtole und
Diaſtole, aus der ſich alle Erſcheinungen entwickeln,
gleichfalls unter einer empiriſchen Form auf, die aber
doch, weil ſie ſehr allgemein iſt, und die Begriffe von
Ausdehnung und Zuſammenziehung, von Solidescenz
und Liquescenz hinter ſich hat, ſehr fruchtbar iſt und
eine hoͤchſt mannigfaltige Anwendung leidet.

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[216/0250] und ein guter Kopf konnte ſich die eine oder die andre zur Nachfolge waͤhlen, je nachdem ſie ihm ſeiner Denk- weiſe gemaͤß ſchien. Dennoch hatte Autoritaͤt im All- gemeinen ſo großes Gewicht, daß man kaum etwas zu behaupten unternahm, was nicht fruͤher von einem Alten ſchon geaͤußert worden; wobey man jedoch zu bemerken nicht unterlaſſen kann, daß ſie den abgeſchloſ- ſenen Kreis menſchlicher Vorſtellungsarten voͤllig, wenn gleich oft nur fluͤchtig und genialiſch, durchlaufen hat- ten, ſo daß der Neuere, indem er ſie naͤher kennen lernt, ſeine geglaubte Originalitaͤt oft beſchaͤmt ſieht. Daß die Elemente, wonach Ariſtoteles und die ſei- nigen die Anfaͤnge der Dinge darſtellen und eintheilen wollen, empiriſchen, und wenn man will, poetiſchen Urſprungs ſeyen, war einem frey aufblickenden Geiſte nicht ſchwer zu entdecken. Teleſius fuͤhlte, daß man, um zu Anfaͤngen zu gelangen, ins Einfachere gehen muͤſſe. Er ſetzt daher die Materie voraus und ſtellt ſie unter den Einfluß von zwey empfindbaren aber un- greiflichen Principien, der Waͤrme und der Kaͤlte. Was er hiebey fruͤhern Ueberlieferungen ſchuldig, laſſen wir unausgemacht. Genug er faßte jene geheimnißvolle Syſtole und Diaſtole, aus der ſich alle Erſcheinungen entwickeln, gleichfalls unter einer empiriſchen Form auf, die aber doch, weil ſie ſehr allgemein iſt, und die Begriffe von Ausdehnung und Zuſammenziehung, von Solidescenz und Liquescenz hinter ſich hat, ſehr fruchtbar iſt und eine hoͤchſt mannigfaltige Anwendung leidet.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/250>, abgerufen am 24.11.2024.