Wir befinden uns nunmehr auf dem Puncte, wo die Scheidung der ältern und neuern Zeit immer be- deutender wird. Ein gewisser Bezug aufs Alterthum geht noch immer ununterbrochen und mächtig fort; doch finden wir von nun an mehrere Menschen, die sich auf ihre eigenen Kräfte verlassen.
Man sagt von dem menschlichen Herzen, es sey ein trotzig und verzagtes Wesen. Von dem menschli- chen Geiste darf man wohl ähnliches prädiciren. Er ist ungeduldig und anmaßlich und zugleich unsicher und zaghaft. Er strebt nach Erfahrung und in ihr nach einer erweiterten reinern Thätigkeit, und dann bebt er wieder davor zurück, und zwar nicht mit Unrecht. Wie er vorschreitet, fühlt er immer mehr, wie er be- dingt sey, daß er verlieren müsse, indem er gewinnt: denn ans Wahre wie ans Falsche sind nothwendige Bedingungen des Daseyns gebunden.
Daher wehrt man sich im Wissenschaftlichen so lange als nur möglich für das Hergebrachte, und es entstehen heftige, langwierige Streitigkeiten, theoretische sowohl als practische Retardationen. Hievon geben uns das funfzehnte und sechszehnte Jahrhundert die lebhaftesten Beyspiele. Die Welt ist kaum durch Ent- deckung neuer Länder unmäßig in die Länge ausgedehnt; so muß sie sich schon in sich selbst als rund abschließen.
Zwiſchenbetrachtung.
Wir befinden uns nunmehr auf dem Puncte, wo die Scheidung der aͤltern und neuern Zeit immer be- deutender wird. Ein gewiſſer Bezug aufs Alterthum geht noch immer ununterbrochen und maͤchtig fort; doch finden wir von nun an mehrere Menſchen, die ſich auf ihre eigenen Kraͤfte verlaſſen.
Man ſagt von dem menſchlichen Herzen, es ſey ein trotzig und verzagtes Weſen. Von dem menſchli- chen Geiſte darf man wohl aͤhnliches praͤdiciren. Er iſt ungeduldig und anmaßlich und zugleich unſicher und zaghaft. Er ſtrebt nach Erfahrung und in ihr nach einer erweiterten reinern Thaͤtigkeit, und dann bebt er wieder davor zuruͤck, und zwar nicht mit Unrecht. Wie er vorſchreitet, fuͤhlt er immer mehr, wie er be- dingt ſey, daß er verlieren muͤſſe, indem er gewinnt: denn ans Wahre wie ans Falſche ſind nothwendige Bedingungen des Daſeyns gebunden.
Daher wehrt man ſich im Wiſſenſchaftlichen ſo lange als nur moͤglich fuͤr das Hergebrachte, und es entſtehen heftige, langwierige Streitigkeiten, theoretiſche ſowohl als practiſche Retardationen. Hievon geben uns das funfzehnte und ſechszehnte Jahrhundert die lebhafteſten Beyſpiele. Die Welt iſt kaum durch Ent- deckung neuer Laͤnder unmaͤßig in die Laͤnge ausgedehnt; ſo muß ſie ſich ſchon in ſich ſelbſt als rund abſchließen.
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Zwiſchenbetrachtung.
Wir befinden uns nunmehr auf dem Puncte, wo
die Scheidung der aͤltern und neuern Zeit immer be-
deutender wird. Ein gewiſſer Bezug aufs Alterthum
geht noch immer ununterbrochen und maͤchtig fort;
doch finden wir von nun an mehrere Menſchen, die
ſich auf ihre eigenen Kraͤfte verlaſſen.
Man ſagt von dem menſchlichen Herzen, es ſey
ein trotzig und verzagtes Weſen. Von dem menſchli-
chen Geiſte darf man wohl aͤhnliches praͤdiciren. Er
iſt ungeduldig und anmaßlich und zugleich unſicher und
zaghaft. Er ſtrebt nach Erfahrung und in ihr nach
einer erweiterten reinern Thaͤtigkeit, und dann bebt
er wieder davor zuruͤck, und zwar nicht mit Unrecht.
Wie er vorſchreitet, fuͤhlt er immer mehr, wie er be-
dingt ſey, daß er verlieren muͤſſe, indem er gewinnt:
denn ans Wahre wie ans Falſche ſind nothwendige
Bedingungen des Daſeyns gebunden.
Daher wehrt man ſich im Wiſſenſchaftlichen ſo
lange als nur moͤglich fuͤr das Hergebrachte, und es
entſtehen heftige, langwierige Streitigkeiten, theoretiſche
ſowohl als practiſche Retardationen. Hievon geben
uns das funfzehnte und ſechszehnte Jahrhundert die
lebhafteſten Beyſpiele. Die Welt iſt kaum durch Ent-
deckung neuer Laͤnder unmaͤßig in die Laͤnge ausgedehnt;
ſo muß ſie ſich ſchon in ſich ſelbſt als rund abſchließen.
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/246>, abgerufen am 22.11.2024.
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