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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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ben, Einen oder den Andern, als Meister, Lehrer,
Führer anzuerkennen.

Diese Nothwendigkeit zeigte sich am deutlichsten
bey Auslegung der heiligen Schrift. Diese, bey der
Selbstständigkeit, wunderbaren Originalität, Vielseitig-
keit, Totalität, ja Unermeßlichkeit ihres Inhalts, brachte
keinen Maaßstab mit, wonach sie gemessen werden
konnte; er mußte von außen gesucht und an sie ange-
legt werden, und das ganze Chor derer, die sich des-
halb versammelten, Juden und Christen, Heiden und
Heilige, Kirchenväter und Ketzer, Concilien und Päbste,
Reformatoren und Widersacher, sämmtlich, indem sie
auslegen und erklären, verknüpfen oder suppliren, zu-
rechtlegen oder anwenden wollten, thaten es auf Pla-
tonische oder Aristotelische Weise, bewußt oder unbe-
wußt, wie uns, um nur der jüdischen Schule zu er-
wähnen, schon die talmudistische und cabbalistische Be-
handlung der Bibel überzeugt.

Wie bey Erklärung und Benutzung der heiligen
Schriften, so auch bey Erklärung, Erweiterung und
Benutzung des wissenschaftlich Ueberlieferten, theilte sich
das Chor der Wiß- und Kenntnißbegierigen in zwey
Parteyen. Betrachten wir die africanischen, besonders
ägyptischen, neuern Weisen und Gelehrten, wie sehr
neigt sich dort alles nach der Platonischen Vorstellungs-
art. Bemerken wir die Asiaten, so finden wir mehr
Neigung zur Aristotelischen Behandlungsweise, wie es
später bey den Arabern besonders auffällt.

ben, Einen oder den Andern, als Meiſter, Lehrer,
Fuͤhrer anzuerkennen.

Dieſe Nothwendigkeit zeigte ſich am deutlichſten
bey Auslegung der heiligen Schrift. Dieſe, bey der
Selbſtſtaͤndigkeit, wunderbaren Originalitaͤt, Vielſeitig-
keit, Totalitaͤt, ja Unermeßlichkeit ihres Inhalts, brachte
keinen Maaßſtab mit, wonach ſie gemeſſen werden
konnte; er mußte von außen geſucht und an ſie ange-
legt werden, und das ganze Chor derer, die ſich des-
halb verſammelten, Juden und Chriſten, Heiden und
Heilige, Kirchenvaͤter und Ketzer, Concilien und Paͤbſte,
Reformatoren und Widerſacher, ſaͤmmtlich, indem ſie
auslegen und erklaͤren, verknuͤpfen oder ſuppliren, zu-
rechtlegen oder anwenden wollten, thaten es auf Pla-
toniſche oder Ariſtoteliſche Weiſe, bewußt oder unbe-
wußt, wie uns, um nur der juͤdiſchen Schule zu er-
waͤhnen, ſchon die talmudiſtiſche und cabbaliſtiſche Be-
handlung der Bibel uͤberzeugt.

Wie bey Erklaͤrung und Benutzung der heiligen
Schriften, ſo auch bey Erklaͤrung, Erweiterung und
Benutzung des wiſſenſchaftlich Ueberlieferten, theilte ſich
das Chor der Wiß- und Kenntnißbegierigen in zwey
Parteyen. Betrachten wir die africaniſchen, beſonders
aͤgyptiſchen, neuern Weiſen und Gelehrten, wie ſehr
neigt ſich dort alles nach der Platoniſchen Vorſtellungs-
art. Bemerken wir die Aſiaten, ſo finden wir mehr
Neigung zur Ariſtoteliſchen Behandlungsweiſe, wie es
ſpaͤter bey den Arabern beſonders auffaͤllt.

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[142/0176] ben, Einen oder den Andern, als Meiſter, Lehrer, Fuͤhrer anzuerkennen. Dieſe Nothwendigkeit zeigte ſich am deutlichſten bey Auslegung der heiligen Schrift. Dieſe, bey der Selbſtſtaͤndigkeit, wunderbaren Originalitaͤt, Vielſeitig- keit, Totalitaͤt, ja Unermeßlichkeit ihres Inhalts, brachte keinen Maaßſtab mit, wonach ſie gemeſſen werden konnte; er mußte von außen geſucht und an ſie ange- legt werden, und das ganze Chor derer, die ſich des- halb verſammelten, Juden und Chriſten, Heiden und Heilige, Kirchenvaͤter und Ketzer, Concilien und Paͤbſte, Reformatoren und Widerſacher, ſaͤmmtlich, indem ſie auslegen und erklaͤren, verknuͤpfen oder ſuppliren, zu- rechtlegen oder anwenden wollten, thaten es auf Pla- toniſche oder Ariſtoteliſche Weiſe, bewußt oder unbe- wußt, wie uns, um nur der juͤdiſchen Schule zu er- waͤhnen, ſchon die talmudiſtiſche und cabbaliſtiſche Be- handlung der Bibel uͤberzeugt. Wie bey Erklaͤrung und Benutzung der heiligen Schriften, ſo auch bey Erklaͤrung, Erweiterung und Benutzung des wiſſenſchaftlich Ueberlieferten, theilte ſich das Chor der Wiß- und Kenntnißbegierigen in zwey Parteyen. Betrachten wir die africaniſchen, beſonders aͤgyptiſchen, neuern Weiſen und Gelehrten, wie ſehr neigt ſich dort alles nach der Platoniſchen Vorſtellungs- art. Bemerken wir die Aſiaten, ſo finden wir mehr Neigung zur Ariſtoteliſchen Behandlungsweiſe, wie es ſpaͤter bey den Arabern beſonders auffaͤllt.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/176>, abgerufen am 22.11.2024.