räthseln, war noch nicht Sitte geworden. Nun bleibt ihm, bey dem großen Drange, den er in sich fühlt, nichts übrig, als auf die Nachkommen zu hoffen, mit Vorfreude überzeugt zu seyn, daß sie mehr wissen, mehr einsehen werden als er, ja ihnen sogar die Selbst- gefälligkeit zu gönnen, mit der sie wahrscheinlich auf ihre unwissenden Vorfahren herabsehen würden.
Das haben sie denn auch redlich gethan und thun es noch. Freylich sind sie viel später dazu gelangt, als unser Philosoph sich vorstellen mochte. Das Ver- derbniß der Römer schwebt ihm fürchterlich vor; daß aber daraus nur allzubald das Verderben sich entwi- ckeln, daß die vorhandene Welt völlig untergehen, die Menschheit über ein Jahrtausend verworren und hülf- los irren und schwanken würde, ohne auf irgend einen Ausweg zu gerathen, das war ihm wohl unmöglich zu denken, ihm, der das Reich, dessen Kaiser von ihm er- zogen ward, in übermäßiger Herrlichkeit vor sich blü- hen sah.
raͤthſeln, war noch nicht Sitte geworden. Nun bleibt ihm, bey dem großen Drange, den er in ſich fuͤhlt, nichts uͤbrig, als auf die Nachkommen zu hoffen, mit Vorfreude uͤberzeugt zu ſeyn, daß ſie mehr wiſſen, mehr einſehen werden als er, ja ihnen ſogar die Selbſt- gefaͤlligkeit zu goͤnnen, mit der ſie wahrſcheinlich auf ihre unwiſſenden Vorfahren herabſehen wuͤrden.
Das haben ſie denn auch redlich gethan und thun es noch. Freylich ſind ſie viel ſpaͤter dazu gelangt, als unſer Philoſoph ſich vorſtellen mochte. Das Ver- derbniß der Roͤmer ſchwebt ihm fuͤrchterlich vor; daß aber daraus nur allzubald das Verderben ſich entwi- ckeln, daß die vorhandene Welt voͤllig untergehen, die Menſchheit uͤber ein Jahrtauſend verworren und huͤlf- los irren und ſchwanken wuͤrde, ohne auf irgend einen Ausweg zu gerathen, das war ihm wohl unmoͤglich zu denken, ihm, der das Reich, deſſen Kaiſer von ihm er- zogen ward, in uͤbermaͤßiger Herrlichkeit vor ſich bluͤ- hen ſah.
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raͤthſeln, war noch nicht Sitte geworden. Nun bleibt
ihm, bey dem großen Drange, den er in ſich fuͤhlt,
nichts uͤbrig, als auf die Nachkommen zu hoffen, mit
Vorfreude uͤberzeugt zu ſeyn, daß ſie mehr wiſſen,
mehr einſehen werden als er, ja ihnen ſogar die Selbſt-
gefaͤlligkeit zu goͤnnen, mit der ſie wahrſcheinlich auf ihre
unwiſſenden Vorfahren herabſehen wuͤrden.
Das haben ſie denn auch redlich gethan und thun
es noch. Freylich ſind ſie viel ſpaͤter dazu gelangt,
als unſer Philoſoph ſich vorſtellen mochte. Das Ver-
derbniß der Roͤmer ſchwebt ihm fuͤrchterlich vor; daß
aber daraus nur allzubald das Verderben ſich entwi-
ckeln, daß die vorhandene Welt voͤllig untergehen, die
Menſchheit uͤber ein Jahrtauſend verworren und huͤlf-
los irren und ſchwanken wuͤrde, ohne auf irgend einen
Ausweg zu gerathen, das war ihm wohl unmoͤglich zu
denken, ihm, der das Reich, deſſen Kaiſer von ihm er-
zogen ward, in uͤbermaͤßiger Herrlichkeit vor ſich bluͤ-
hen ſah.
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/162>, abgerufen am 24.11.2024.
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