werden unter ein einzig Phänomen subsummirt; die Erfahrung kommt ins Enge, man ist im Stande wei- ter vorwärts zu gehen.
Die Schwierigkeit, den Aristoteles zu verstehen, ent- springt aus der antiken Behandlungsart, die uns fremd ist. Zerstreute Fälle sind aus der gemeinen Empirie aufgegriffen, mit gehörigem und geistreichen Räsonne- ment begleitet, auch wohl schicklich genug zusammen- gestellt; aber nun tritt der Begriff ohne Vermittlung hinzu, das Räsonnement geht ins Subtile und Spitz- fündige, das Begriffene wird wieder durch Begriffe bearbeitet, anstatt daß man es nun deutlich auf sich beruhen ließe, einzeln vermehrte, massenweise zusam- menstellte, und erwartete, ob eine Idee daraus entsprin- gen wolle, wenn sie sich nicht gleich von Anfang an dazu gesellte.
Hatten wir nun bey der wissenschaftlichen Behand- lung, wie sie von den Griechen unternommen worden, wie sie ihnen geglückt, manches zu erinnern; so tref- fen wir nunmehr, wenn wir ihre Kunst betrachten, auf einen vollendeten Kreis, der, indem er sich in sich selbst abschließt, doch auch zugleich als Glied in jene Bemühungen eingreift und, wo das Wissen nicht Genüge leistete, uns durch die That befriedigt.
Die Menschen sind überhaupt der Kunst mehr ge- wachsen als der Wissenschaft. Jene gehört zur gro- ßen Hälfte ihnen selbst, diese zur großen Hälfte der Welt an. Bey jener läßt sich eine Entwickelung in reiner Folge, diese kaum ohne ein unendliches Zusam-
werden unter ein einzig Phaͤnomen ſubſummirt; die Erfahrung kommt ins Enge, man iſt im Stande wei- ter vorwaͤrts zu gehen.
Die Schwierigkeit, den Ariſtoteles zu verſtehen, ent- ſpringt aus der antiken Behandlungsart, die uns fremd iſt. Zerſtreute Faͤlle ſind aus der gemeinen Empirie aufgegriffen, mit gehoͤrigem und geiſtreichen Raͤſonne- ment begleitet, auch wohl ſchicklich genug zuſammen- geſtellt; aber nun tritt der Begriff ohne Vermittlung hinzu, das Raͤſonnement geht ins Subtile und Spitz- fuͤndige, das Begriffene wird wieder durch Begriffe bearbeitet, anſtatt daß man es nun deutlich auf ſich beruhen ließe, einzeln vermehrte, maſſenweiſe zuſam- menſtellte, und erwartete, ob eine Idee daraus entſprin- gen wolle, wenn ſie ſich nicht gleich von Anfang an dazu geſellte.
Hatten wir nun bey der wiſſenſchaftlichen Behand- lung, wie ſie von den Griechen unternommen worden, wie ſie ihnen gegluͤckt, manches zu erinnern; ſo tref- fen wir nunmehr, wenn wir ihre Kunſt betrachten, auf einen vollendeten Kreis, der, indem er ſich in ſich ſelbſt abſchließt, doch auch zugleich als Glied in jene Bemuͤhungen eingreift und, wo das Wiſſen nicht Genuͤge leiſtete, uns durch die That befriedigt.
Die Menſchen ſind uͤberhaupt der Kunſt mehr ge- wachſen als der Wiſſenſchaft. Jene gehoͤrt zur gro- ßen Haͤlfte ihnen ſelbſt, dieſe zur großen Haͤlfte der Welt an. Bey jener laͤßt ſich eine Entwickelung in reiner Folge, dieſe kaum ohne ein unendliches Zuſam-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0152"n="118"/>
werden unter ein einzig Phaͤnomen ſubſummirt; die<lb/>
Erfahrung kommt ins Enge, man iſt im Stande wei-<lb/>
ter vorwaͤrts zu gehen.</p><lb/><p>Die Schwierigkeit, den Ariſtoteles zu verſtehen, ent-<lb/>ſpringt aus der antiken Behandlungsart, die uns fremd<lb/>
iſt. Zerſtreute Faͤlle ſind aus der gemeinen Empirie<lb/>
aufgegriffen, mit gehoͤrigem und geiſtreichen Raͤſonne-<lb/>
ment begleitet, auch wohl ſchicklich genug zuſammen-<lb/>
geſtellt; aber nun tritt der Begriff ohne Vermittlung<lb/>
hinzu, das Raͤſonnement geht ins Subtile und Spitz-<lb/>
fuͤndige, das Begriffene wird wieder durch Begriffe<lb/>
bearbeitet, anſtatt daß man es nun deutlich auf ſich<lb/>
beruhen ließe, einzeln vermehrte, maſſenweiſe zuſam-<lb/>
menſtellte, und erwartete, ob eine Idee daraus entſprin-<lb/>
gen wolle, wenn ſie ſich nicht gleich von Anfang an<lb/>
dazu geſellte.</p><lb/><p>Hatten wir nun bey der wiſſenſchaftlichen Behand-<lb/>
lung, wie ſie von den Griechen unternommen worden,<lb/>
wie ſie ihnen gegluͤckt, manches zu erinnern; ſo tref-<lb/>
fen wir nunmehr, wenn wir ihre Kunſt betrachten,<lb/>
auf einen vollendeten Kreis, der, indem er ſich in<lb/>ſich ſelbſt abſchließt, doch auch zugleich als Glied in<lb/>
jene Bemuͤhungen eingreift und, wo das Wiſſen nicht<lb/>
Genuͤge leiſtete, uns durch die That befriedigt.</p><lb/><p>Die Menſchen ſind uͤberhaupt der Kunſt mehr ge-<lb/>
wachſen als der Wiſſenſchaft. Jene gehoͤrt zur gro-<lb/>
ßen Haͤlfte ihnen ſelbſt, dieſe zur großen Haͤlfte der<lb/>
Welt an. Bey jener laͤßt ſich eine Entwickelung in<lb/>
reiner Folge, dieſe kaum ohne ein unendliches Zuſam-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[118/0152]
werden unter ein einzig Phaͤnomen ſubſummirt; die
Erfahrung kommt ins Enge, man iſt im Stande wei-
ter vorwaͤrts zu gehen.
Die Schwierigkeit, den Ariſtoteles zu verſtehen, ent-
ſpringt aus der antiken Behandlungsart, die uns fremd
iſt. Zerſtreute Faͤlle ſind aus der gemeinen Empirie
aufgegriffen, mit gehoͤrigem und geiſtreichen Raͤſonne-
ment begleitet, auch wohl ſchicklich genug zuſammen-
geſtellt; aber nun tritt der Begriff ohne Vermittlung
hinzu, das Raͤſonnement geht ins Subtile und Spitz-
fuͤndige, das Begriffene wird wieder durch Begriffe
bearbeitet, anſtatt daß man es nun deutlich auf ſich
beruhen ließe, einzeln vermehrte, maſſenweiſe zuſam-
menſtellte, und erwartete, ob eine Idee daraus entſprin-
gen wolle, wenn ſie ſich nicht gleich von Anfang an
dazu geſellte.
Hatten wir nun bey der wiſſenſchaftlichen Behand-
lung, wie ſie von den Griechen unternommen worden,
wie ſie ihnen gegluͤckt, manches zu erinnern; ſo tref-
fen wir nunmehr, wenn wir ihre Kunſt betrachten,
auf einen vollendeten Kreis, der, indem er ſich in
ſich ſelbſt abſchließt, doch auch zugleich als Glied in
jene Bemuͤhungen eingreift und, wo das Wiſſen nicht
Genuͤge leiſtete, uns durch die That befriedigt.
Die Menſchen ſind uͤberhaupt der Kunſt mehr ge-
wachſen als der Wiſſenſchaft. Jene gehoͤrt zur gro-
ßen Haͤlfte ihnen ſelbſt, dieſe zur großen Haͤlfte der
Welt an. Bey jener laͤßt ſich eine Entwickelung in
reiner Folge, dieſe kaum ohne ein unendliches Zuſam-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/152>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.