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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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314.

Man erinnere sich alles dessen was wir oben an-
geführt, und bemerke, wie Newton durch diese Aus-
flucht den ganzen Versuch aufhebt. Denn, wenn eine
Stelle ist im Violetten, wo die Buchstaben unsichtbar
werden, und eben so im Rothen eine, wo sie gleich-
falls verschwinden; so folgt ja natürlich, daß in die-
sem Falle die Figuren auf der meist refrangiblen Far-
benfläche zugleich mit denen auf der mindest refran-
giblen verschwinden, und umgekehrt, daß wo sie sicht-
bar sind, sie stufenweise zu gleicher Zeit sichtbar seyn
müssen; daß also hier an keine diverse Refrangibilität
der Farben zu denken, sondern daß allein der hellere
oder dunklere Grund die Ursache der deutlichern oder
undeutlichern Erscheinung jener Züge seyn müsse. Um
aber sein Spiel zu verdecken, drückt Newton sich höchst
unbestimmt aus: er spricht von sensiblem Roth, da es
doch eigentlich die schwarzen Buchstaben sind, die im
helleren Rothen noch sensibel bleiben. Sensibel ist das
Roth noch ganz zuletzt am Spectrum in seiner größten
Tiefe und Dunkelheit, wenn es auch kein gedrucktes
Blatt mehr erleuchten kann, und die Buchstaben darin
nicht mehr sensibel sind. Eben so drückt sich Newton
auch über das Violette und die übrigen Farben aus.
Bald stehen sie wie in Abstracto da, bald als Lichter
die das Buch erleuchten; und doch können sie als
leuchtend und scheinend für sich, bey diesem Versuche
keineswegs gelten; sie müssen allein als ein heller oder
dunkler Grund in Bezug auf die Buchstaben und Fä-
den betrachtet werden.

314.

Man erinnere ſich alles deſſen was wir oben an-
gefuͤhrt, und bemerke, wie Newton durch dieſe Aus-
flucht den ganzen Verſuch aufhebt. Denn, wenn eine
Stelle iſt im Violetten, wo die Buchſtaben unſichtbar
werden, und eben ſo im Rothen eine, wo ſie gleich-
falls verſchwinden; ſo folgt ja natuͤrlich, daß in die-
ſem Falle die Figuren auf der meiſt refrangiblen Far-
benflaͤche zugleich mit denen auf der mindeſt refran-
giblen verſchwinden, und umgekehrt, daß wo ſie ſicht-
bar ſind, ſie ſtufenweiſe zu gleicher Zeit ſichtbar ſeyn
muͤſſen; daß alſo hier an keine diverſe Refrangibilitaͤt
der Farben zu denken, ſondern daß allein der hellere
oder dunklere Grund die Urſache der deutlichern oder
undeutlichern Erſcheinung jener Zuͤge ſeyn muͤſſe. Um
aber ſein Spiel zu verdecken, druͤckt Newton ſich hoͤchſt
unbeſtimmt aus: er ſpricht von ſenſiblem Roth, da es
doch eigentlich die ſchwarzen Buchſtaben ſind, die im
helleren Rothen noch ſenſibel bleiben. Senſibel iſt das
Roth noch ganz zuletzt am Spectrum in ſeiner groͤßten
Tiefe und Dunkelheit, wenn es auch kein gedrucktes
Blatt mehr erleuchten kann, und die Buchſtaben darin
nicht mehr ſenſibel ſind. Eben ſo druͤckt ſich Newton
auch uͤber das Violette und die uͤbrigen Farben aus.
Bald ſtehen ſie wie in Abſtracto da, bald als Lichter
die das Buch erleuchten; und doch koͤnnen ſie als
leuchtend und ſcheinend fuͤr ſich, bey dieſem Verſuche
keineswegs gelten; ſie muͤſſen allein als ein heller oder
dunkler Grund in Bezug auf die Buchſtaben und Faͤ-
den betrachtet werden.

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[519/0573] 314. Man erinnere ſich alles deſſen was wir oben an- gefuͤhrt, und bemerke, wie Newton durch dieſe Aus- flucht den ganzen Verſuch aufhebt. Denn, wenn eine Stelle iſt im Violetten, wo die Buchſtaben unſichtbar werden, und eben ſo im Rothen eine, wo ſie gleich- falls verſchwinden; ſo folgt ja natuͤrlich, daß in die- ſem Falle die Figuren auf der meiſt refrangiblen Far- benflaͤche zugleich mit denen auf der mindeſt refran- giblen verſchwinden, und umgekehrt, daß wo ſie ſicht- bar ſind, ſie ſtufenweiſe zu gleicher Zeit ſichtbar ſeyn muͤſſen; daß alſo hier an keine diverſe Refrangibilitaͤt der Farben zu denken, ſondern daß allein der hellere oder dunklere Grund die Urſache der deutlichern oder undeutlichern Erſcheinung jener Zuͤge ſeyn muͤſſe. Um aber ſein Spiel zu verdecken, druͤckt Newton ſich hoͤchſt unbeſtimmt aus: er ſpricht von ſenſiblem Roth, da es doch eigentlich die ſchwarzen Buchſtaben ſind, die im helleren Rothen noch ſenſibel bleiben. Senſibel iſt das Roth noch ganz zuletzt am Spectrum in ſeiner groͤßten Tiefe und Dunkelheit, wenn es auch kein gedrucktes Blatt mehr erleuchten kann, und die Buchſtaben darin nicht mehr ſenſibel ſind. Eben ſo druͤckt ſich Newton auch uͤber das Violette und die uͤbrigen Farben aus. Bald ſtehen ſie wie in Abſtracto da, bald als Lichter die das Buch erleuchten; und doch koͤnnen ſie als leuchtend und ſcheinend fuͤr ſich, bey dieſem Verſuche keineswegs gelten; ſie muͤſſen allein als ein heller oder dunkler Grund in Bezug auf die Buchſtaben und Faͤ- den betrachtet werden.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 519. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/573>, abgerufen am 11.12.2024.