Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite

einzigen, unbedingt-Wollenden seines aus-
gebreiteten, bevölkerten Reichs erhoben
hatte; denke man sich ihn freymüthiger
Natur, gesellig und guter Laune, dann aber
durch Verdacht, Verdruss und was am
schlimmsten ist, durch übel verstandene
Gerechtigkeitsliebe irre geführt, durch hef-
tiges Trinken aufgeregt, und, dass wir das
Letzte sagen, durch ein schnödes, unheil-
bares körperliches Uebel gepeinigt und zur
Verzweiflung gebracht: so wird man geste-
hen dass diejenigen Verzeihung, wo nicht
Lob verdienen, welche einer so schreckli-
chen Erscheinung auf Erden ein Ende mach-
ten. Selig preisen wir daher gebildete Völ-
ker, deren Monarch sich selbst durch ein
edles sittliches Bewusstseyn regiert; glück-
lich die gemässigten, bedingten Regierun-
gen, die ein Herrscher selbst zu lieben und
zu fördern Ursache hat, weil sie ihn man-
cher Verantwortung überheben, ihm gar
manche Reue ersparen.

Aber nicht allein der Fürst, sondern
ein jeder der, durch Vertrauen, Gunst oder
Anmassung, Theil an der höchsten Macht
gewinnt, kommt in Gefahr den Kreis zu

einzigen, unbedingt-Wollenden seines aus-
gebreiteten, bevölkerten Reichs erhoben
hatte; denke man sich ihn freymüthiger
Natur, gesellig und guter Laune, dann aber
durch Verdacht, Verdruſs und was am
schlimmsten ist, durch übel verstandene
Gerechtigkeitsliebe irre geführt, durch hef-
tiges Trinken aufgeregt, und, daſs wir das
Letzte sagen, durch ein schnödes, unheil-
bares körperliches Uebel gepeinigt und zur
Verzweiflung gebracht: so wird man geste-
hen daſs diejenigen Verzeihung, wo nicht
Lob verdienen, welche einer so schreckli-
chen Erscheinung auf Erden ein Ende mach-
ten. Selig preisen wir daher gebildete Völ-
ker, deren Monarch sich selbst durch ein
edles sittliches Bewuſstseyn regiert; glück-
lich die gemäſsigten, bedingten Regierun-
gen, die ein Herrscher selbst zu lieben und
zu fördern Ursache hat, weil sie ihn man-
cher Verantwortung überheben, ihm gar
manche Reue ersparen.

Aber nicht allein der Fürst, sondern
ein jeder der, durch Vertrauen, Gunst oder
Anmaſsung, Theil an der höchsten Macht
gewinnt, kommt in Gefahr den Kreis zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0500" n="488[490]"/>
einzigen, unbedingt-Wollenden seines aus-<lb/>
gebreiteten, bevölkerten Reichs erhoben<lb/>
hatte; denke man sich ihn freymüthiger<lb/>
Natur, gesellig und guter Laune, dann aber<lb/>
durch Verdacht, Verdru&#x017F;s und was am<lb/>
schlimmsten ist, durch übel verstandene<lb/>
Gerechtigkeitsliebe irre geführt, durch hef-<lb/>
tiges Trinken aufgeregt, und, da&#x017F;s wir das<lb/>
Letzte sagen, durch ein schnödes, unheil-<lb/>
bares körperliches Uebel gepeinigt und zur<lb/>
Verzweiflung gebracht: so wird man geste-<lb/>
hen da&#x017F;s diejenigen Verzeihung, wo nicht<lb/>
Lob verdienen, welche einer so schreckli-<lb/>
chen Erscheinung auf Erden ein Ende mach-<lb/>
ten. Selig preisen wir daher gebildete Völ-<lb/>
ker, deren Monarch sich selbst durch ein<lb/>
edles sittliches Bewu&#x017F;stseyn regiert; glück-<lb/>
lich die gemä&#x017F;sigten, bedingten Regierun-<lb/>
gen, die ein Herrscher selbst zu lieben und<lb/>
zu fördern Ursache hat, weil sie ihn man-<lb/>
cher Verantwortung überheben, ihm gar<lb/>
manche Reue ersparen.</p><lb/>
          <p>Aber nicht allein der Fürst, sondern<lb/>
ein jeder der, durch Vertrauen, Gunst oder<lb/>
Anma&#x017F;sung, Theil an der höchsten Macht<lb/>
gewinnt, kommt in Gefahr den Kreis zu<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[488[490]/0500] einzigen, unbedingt-Wollenden seines aus- gebreiteten, bevölkerten Reichs erhoben hatte; denke man sich ihn freymüthiger Natur, gesellig und guter Laune, dann aber durch Verdacht, Verdruſs und was am schlimmsten ist, durch übel verstandene Gerechtigkeitsliebe irre geführt, durch hef- tiges Trinken aufgeregt, und, daſs wir das Letzte sagen, durch ein schnödes, unheil- bares körperliches Uebel gepeinigt und zur Verzweiflung gebracht: so wird man geste- hen daſs diejenigen Verzeihung, wo nicht Lob verdienen, welche einer so schreckli- chen Erscheinung auf Erden ein Ende mach- ten. Selig preisen wir daher gebildete Völ- ker, deren Monarch sich selbst durch ein edles sittliches Bewuſstseyn regiert; glück- lich die gemäſsigten, bedingten Regierun- gen, die ein Herrscher selbst zu lieben und zu fördern Ursache hat, weil sie ihn man- cher Verantwortung überheben, ihm gar manche Reue ersparen. Aber nicht allein der Fürst, sondern ein jeder der, durch Vertrauen, Gunst oder Anmaſsung, Theil an der höchsten Macht gewinnt, kommt in Gefahr den Kreis zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/500
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 488[490]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/500>, abgerufen am 23.12.2024.