tze sammlet und an Thätigkeit mit ihm zu wetteifern scheint. Nun muss aber in je- dem Sinn der Nachfolger am meisten Ver- dacht erregen. Schon zeugt es von einem grossen Geist des königlichen Vaters wenn er seinen Sohn ohne Neid betrachtet, dem die Natur, in kurzem, alle bisherigen Be- sitzthümer und Erwerbnisse, ohne die Zu- stimmung des mächtig Wollenden, unwider- ruflich übertragen wird. Anderseits wird vom Sohne verlangt, dass er, edelmüthig, gebildet und geschmackvoll, seine Hoffnun- gen mässige, seinen Wunsch verberge und dem väterlichen Schicksal auch nicht dem Scheine nach vorgreife. Und doch! wo ist die menschliche Natur so rein und gross, so gelassen abwartend, so, unter nothwen- digen Bedingungen, mit Freude thätig? dass in einer solchen Lage sich der Vater nicht über den Sohn, der Sohn nicht über den Vater beklage. Und wären sie beyde en- gelrein, so werden sich Ohrenbläser zwi- schen sie stellen, die Unvorsichtigkeit wird zum Verbrechen, der Schein zum Beweis. Wie viele Beyspiele liefert uns die Ge- schichte! wovon wir nur des jammervollen
tze sammlet und an Thätigkeit mit ihm zu wetteifern scheint. Nun muſs aber in je- dem Sinn der Nachfolger am meisten Ver- dacht erregen. Schon zeugt es von einem groſsen Geist des königlichen Vaters wenn er seinen Sohn ohne Neid betrachtet, dem die Natur, in kurzem, alle bisherigen Be- sitzthümer und Erwerbnisse, ohne die Zu- stimmung des mächtig Wollenden, unwider- ruflich übertragen wird. Anderseits wird vom Sohne verlangt, daſs er, edelmüthig, gebildet und geschmackvoll, seine Hoffnun- gen mäſsige, seinen Wunsch verberge und dem väterlichen Schicksal auch nicht dem Scheine nach vorgreife. Und doch! wo ist die menschliche Natur so rein und groſs, so gelassen abwartend, so, unter nothwen- digen Bedingungen, mit Freude thätig? daſs in einer solchen Lage sich der Vater nicht über den Sohn, der Sohn nicht über den Vater beklage. Und wären sie beyde en- gelrein, so werden sich Ohrenbläser zwi- schen sie stellen, die Unvorsichtigkeit wird zum Verbrechen, der Schein zum Beweis. Wie viele Beyspiele liefert uns die Ge- schichte! wovon wir nur des jammervollen
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[485[487]/0497]
tze sammlet und an Thätigkeit mit ihm zu
wetteifern scheint. Nun muſs aber in je-
dem Sinn der Nachfolger am meisten Ver-
dacht erregen. Schon zeugt es von einem
groſsen Geist des königlichen Vaters wenn
er seinen Sohn ohne Neid betrachtet, dem
die Natur, in kurzem, alle bisherigen Be-
sitzthümer und Erwerbnisse, ohne die Zu-
stimmung des mächtig Wollenden, unwider-
ruflich übertragen wird. Anderseits wird
vom Sohne verlangt, daſs er, edelmüthig,
gebildet und geschmackvoll, seine Hoffnun-
gen mäſsige, seinen Wunsch verberge und
dem väterlichen Schicksal auch nicht dem
Scheine nach vorgreife. Und doch! wo ist
die menschliche Natur so rein und groſs,
so gelassen abwartend, so, unter nothwen-
digen Bedingungen, mit Freude thätig? daſs
in einer solchen Lage sich der Vater nicht
über den Sohn, der Sohn nicht über den
Vater beklage. Und wären sie beyde en-
gelrein, so werden sich Ohrenbläser zwi-
schen sie stellen, die Unvorsichtigkeit wird
zum Verbrechen, der Schein zum Beweis.
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 485[487]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/497>, abgerufen am 25.11.2024.
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