Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite

selbst durch Canaan caravanenweis nach
Aegypten ziehn.

Unter einem solchen gebildeten Volke
lebt nunmehr Moses, aber auch als ein ab-
gesonderter, verschlossener Hirte. In dem
traurigsten Zustande, in welchem ein treff-
licher Mann sich nur befinden mag, der,
nicht zum Denken und Ueberlegen gebo-
ren, bloss nach That strebt, sehen wir ihn
einsam in der Wüste, stets im Geiste be-
schäftigt mit den Schicksalen seines Volks,
immer zu dem Gott seiner Ahnherren gewen-
det, ängstlich die Verbannung fühlend, aus
einem Lande, das, ohne der Väter Land
zu seyn, doch gegenwärtig das Vaterland
seines Volks ist. Zu schwach durch seine
Faust in diesem grossen Anliegen zu wir-
ken, unfähig einen Plan zu entwerfen, und,
wenn er ihn entwürfe, ungeschickt zu je-
der Unterhandlung, zu einem, die Persön-
lichkeit begünstigenden, zusammenhangen-
den mündlichen Vortrag. Kein Wunder
wär' es wenn in solchem Zustande eine so
starke Natur sich selbst verzehrte.

Einigen Trost kann ihm in dieser Lage
die Verbindung geben, die ihm, durch hin

28

selbst durch Canaan caravanenweis nach
Aegypten ziehn.

Unter einem solchen gebildeten Volke
lebt nunmehr Moses, aber auch als ein ab-
gesonderter, verschlossener Hirte. In dem
traurigsten Zustande, in welchem ein treff-
licher Mann sich nur befinden mag, der,
nicht zum Denken und Ueberlegen gebo-
ren, bloſs nach That strebt, sehen wir ihn
einsam in der Wüste, stets im Geiste be-
schäftigt mit den Schicksalen seines Volks,
immer zu dem Gott seiner Ahnherren gewen-
det, ängstlich die Verbannung fühlend, aus
einem Lande, das, ohne der Väter Land
zu seyn, doch gegenwärtig das Vaterland
seines Volks ist. Zu schwach durch seine
Faust in diesem groſsen Anliegen zu wir-
ken, unfähig einen Plan zu entwerfen, und,
wenn er ihn entwürfe, ungeschickt zu je-
der Unterhandlung, zu einem, die Persön-
lichkeit begünstigenden, zusammenhangen-
den mündlichen Vortrag. Kein Wunder
wär’ es wenn in solchem Zustande eine so
starke Natur sich selbst verzehrte.

Einigen Trost kann ihm in dieser Lage
die Verbindung geben, die ihm, durch hin

28
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0443" n="431[433]"/>
selbst durch Canaan caravanenweis nach<lb/>
Aegypten ziehn.</p><lb/>
          <p>Unter einem solchen gebildeten Volke<lb/>
lebt nunmehr Moses, aber auch als ein ab-<lb/>
gesonderter, verschlossener Hirte. In dem<lb/>
traurigsten Zustande, in welchem ein treff-<lb/>
licher Mann sich nur befinden mag, der,<lb/>
nicht zum Denken und Ueberlegen gebo-<lb/>
ren, blo&#x017F;s nach That strebt, sehen wir ihn<lb/>
einsam in der Wüste, stets im Geiste be-<lb/>
schäftigt mit den Schicksalen seines Volks,<lb/>
immer zu dem Gott seiner Ahnherren gewen-<lb/>
det, ängstlich die Verbannung fühlend, aus<lb/>
einem Lande, das, ohne der Väter Land<lb/>
zu seyn, doch gegenwärtig das Vaterland<lb/>
seines Volks ist. Zu schwach durch seine<lb/>
Faust in diesem gro&#x017F;sen Anliegen zu wir-<lb/>
ken, unfähig einen Plan zu entwerfen, und,<lb/>
wenn er ihn entwürfe, ungeschickt zu je-<lb/>
der Unterhandlung, zu einem, die Persön-<lb/>
lichkeit begünstigenden, zusammenhangen-<lb/>
den mündlichen Vortrag. Kein Wunder<lb/>
wär&#x2019; es wenn in solchem Zustande eine so<lb/>
starke Natur sich selbst verzehrte.</p><lb/>
          <p>Einigen Trost kann ihm in dieser Lage<lb/>
die Verbindung geben, die ihm, durch hin<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">28</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[431[433]/0443] selbst durch Canaan caravanenweis nach Aegypten ziehn. Unter einem solchen gebildeten Volke lebt nunmehr Moses, aber auch als ein ab- gesonderter, verschlossener Hirte. In dem traurigsten Zustande, in welchem ein treff- licher Mann sich nur befinden mag, der, nicht zum Denken und Ueberlegen gebo- ren, bloſs nach That strebt, sehen wir ihn einsam in der Wüste, stets im Geiste be- schäftigt mit den Schicksalen seines Volks, immer zu dem Gott seiner Ahnherren gewen- det, ängstlich die Verbannung fühlend, aus einem Lande, das, ohne der Väter Land zu seyn, doch gegenwärtig das Vaterland seines Volks ist. Zu schwach durch seine Faust in diesem groſsen Anliegen zu wir- ken, unfähig einen Plan zu entwerfen, und, wenn er ihn entwürfe, ungeschickt zu je- der Unterhandlung, zu einem, die Persön- lichkeit begünstigenden, zusammenhangen- den mündlichen Vortrag. Kein Wunder wär’ es wenn in solchem Zustande eine so starke Natur sich selbst verzehrte. Einigen Trost kann ihm in dieser Lage die Verbindung geben, die ihm, durch hin 28

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/443
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 431[433]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/443>, abgerufen am 23.12.2024.