thun, die wir Nacht und Tag dein Gesicht anzusehen baben? Wenn wir nicht weinen, wer soll denn weinen! desshalb habe ich geweint. -- Timur kam vor Lachen ausser sich.
Buch Suleika Dieses, ohnehin das stärkste der ganzen Sammlung, möchte wohl für abgeschlossen anzusehen seyn. Der Hauch und Geist einer Leidenschaft, der durch das Ganze weht, kehrt nicht leicht wieder zurück, wenigstens ist dessen Rück- kehr, wie die eines guten Weinjahres, in Hoffnung und Demuth zu erwarten.
Ueber das Betragen des westlichen Dichters aber, in diesem Buche dürfen wir einige Betrachtungen anstellen. Nach dem Beyspiele mancher östlichen Vorgänger hält er sich entfernt vom Sultan. Als genüg- samer Derwisch darf er sich sogar dem Fürsten vergleichen; denn der gründliche Bettler soll eine Art von König seyn. Ar- muth giebt Verwegenheit. Irdische Gü- ter und ihren Werth nicht anzuerkennen, nichts oder wenig davon zu verlangen ist sein Entschluss, der das sorgloseste Behagen erzeugt. Statt einen angstvollen Besitz zu
thun, die wir Nacht und Tag dein Gesicht anzusehen baben? Wenn wir nicht weinen, wer soll denn weinen! deſshalb habe ich geweint. — Timur kam vor Lachen auſser sich.
Buch Suleika Dieses, ohnehin das stärkste der ganzen Sammlung, möchte wohl für abgeschlossen anzusehen seyn. Der Hauch und Geist einer Leidenschaft, der durch das Ganze weht, kehrt nicht leicht wieder zurück, wenigstens ist dessen Rück- kehr, wie die eines guten Weinjahres, in Hoffnung und Demuth zu erwarten.
Ueber das Betragen des westlichen Dichters aber, in diesem Buche dürfen wir einige Betrachtungen anstellen. Nach dem Beyspiele mancher östlichen Vorgänger hält er sich entfernt vom Sultan. Als genüg- samer Derwisch darf er sich sogar dem Fürsten vergleichen; denn der gründliche Bettler soll eine Art von König seyn. Ar- muth giebt Verwegenheit. Irdische Gü- ter und ihren Werth nicht anzuerkennen, nichts oder wenig davon zu verlangen ist sein Entschluſs, der das sorgloseste Behagen erzeugt. Statt einen angstvollen Besitz zu
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[411[413]/0423]
thun, die wir Nacht und Tag dein Gesicht
anzusehen baben? Wenn wir nicht weinen,
wer soll denn weinen! deſshalb habe ich
geweint. — Timur kam vor Lachen auſser
sich.
Buch Suleika Dieses, ohnehin das
stärkste der ganzen Sammlung, möchte wohl
für abgeschlossen anzusehen seyn. Der
Hauch und Geist einer Leidenschaft, der
durch das Ganze weht, kehrt nicht leicht
wieder zurück, wenigstens ist dessen Rück-
kehr, wie die eines guten Weinjahres, in
Hoffnung und Demuth zu erwarten.
Ueber das Betragen des westlichen
Dichters aber, in diesem Buche dürfen wir
einige Betrachtungen anstellen. Nach dem
Beyspiele mancher östlichen Vorgänger hält
er sich entfernt vom Sultan. Als genüg-
samer Derwisch darf er sich sogar dem
Fürsten vergleichen; denn der gründliche
Bettler soll eine Art von König seyn. Ar-
muth giebt Verwegenheit. Irdische Gü-
ter und ihren Werth nicht anzuerkennen,
nichts oder wenig davon zu verlangen ist
sein Entschluſs, der das sorgloseste Behagen
erzeugt. Statt einen angstvollen Besitz zu
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 411[413]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/423>, abgerufen am 23.12.2024.
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