Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite

geringste Veranlassung sogleich gewaltsam
hervorspringt.

Mit diesem sittlichen Gebrechen, wenn
mans dafür halten will, sieht es im West-
lande gar wunderlich aus. Bescheidenheit
ist eigentlich eine gesellige Tugend, sie
deutet auf grosse Ausbildung; sie ist eine
Selbstverleugnung nach aussen, welche, auf
einem grossen innern Werthe ruhend, als
die höchste Eigenschaft des Menschen an-
gesehen wird. Und so hören wir, dass die
Menge immer zuerst an den vorzüglichsten
Menschen die Bescheidenheit preist, ohne
sich auf ihre übrigen Qualitäten sonderlich
einzulassen. Bescheidenheit aber ist immer
mit Verstellung verknüpft und eine Art
Schmeicheley, die um desto wirksamer ist
als sie ohne Zudringlichkeit dem andern
wohlthut, indem sie ihn in seinem behag-
lichen Selbstgefühle nicht irre macht. Alles
aber was man gute Gesellschaft nennt, be-
steht in einer immer wachsenden Vernei-
nung sein selbst, so dass die Societät zu-
letzt ganz Null wird; es müsste denn das
Talent sich ausbilden, dass wir, indem wir

geringste Veranlassung sogleich gewaltsam
hervorspringt.

Mit diesem sittlichen Gebrechen, wenn
mans dafür halten will, sieht es im West-
lande gar wunderlich aus. Bescheidenheit
ist eigentlich eine gesellige Tugend, sie
deutet auf groſse Ausbildung; sie ist eine
Selbstverleugnung nach auſsen, welche, auf
einem groſsen innern Werthe ruhend, als
die höchste Eigenschaft des Menschen an-
gesehen wird. Und so hören wir, daſs die
Menge immer zuerst an den vorzüglichsten
Menschen die Bescheidenheit preist, ohne
sich auf ihre übrigen Qualitäten sonderlich
einzulassen. Bescheidenheit aber ist immer
mit Verstellung verknüpft und eine Art
Schmeicheley, die um desto wirksamer ist
als sie ohne Zudringlichkeit dem andern
wohlthut, indem sie ihn in seinem behag-
lichen Selbstgefühle nicht irre macht. Alles
aber was man gute Gesellschaft nennt, be-
steht in einer immer wachsenden Vernei-
nung sein selbst, so daſs die Societät zu-
letzt ganz Null wird; es müſste denn das
Talent sich ausbilden, daſs wir, indem wir

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0418" n="406[408]"/>
geringste Veranlassung sogleich gewaltsam<lb/>
hervorspringt.</p><lb/>
          <p>Mit diesem sittlichen Gebrechen, wenn<lb/>
mans dafür halten will, sieht es im West-<lb/>
lande gar wunderlich aus. Bescheidenheit<lb/>
ist eigentlich eine gesellige Tugend, sie<lb/>
deutet auf gro&#x017F;se Ausbildung; sie ist eine<lb/>
Selbstverleugnung nach au&#x017F;sen, welche, auf<lb/>
einem gro&#x017F;sen innern Werthe ruhend, als<lb/>
die höchste Eigenschaft des Menschen an-<lb/>
gesehen wird. Und so hören wir, da&#x017F;s die<lb/>
Menge immer zuerst an den vorzüglichsten<lb/>
Menschen die Bescheidenheit preist, ohne<lb/>
sich auf ihre übrigen Qualitäten sonderlich<lb/>
einzulassen. Bescheidenheit aber ist immer<lb/>
mit Verstellung verknüpft und eine Art<lb/>
Schmeicheley, die um desto wirksamer ist<lb/>
als sie ohne Zudringlichkeit dem andern<lb/>
wohlthut, indem sie ihn in seinem behag-<lb/>
lichen Selbstgefühle nicht irre macht. Alles<lb/>
aber was man gute Gesellschaft nennt, be-<lb/>
steht in einer immer wachsenden Vernei-<lb/>
nung sein selbst, so da&#x017F;s die Societät zu-<lb/>
letzt ganz Null wird; es mü&#x017F;ste denn das<lb/>
Talent sich ausbilden, da&#x017F;s wir, indem wir<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[406[408]/0418] geringste Veranlassung sogleich gewaltsam hervorspringt. Mit diesem sittlichen Gebrechen, wenn mans dafür halten will, sieht es im West- lande gar wunderlich aus. Bescheidenheit ist eigentlich eine gesellige Tugend, sie deutet auf groſse Ausbildung; sie ist eine Selbstverleugnung nach auſsen, welche, auf einem groſsen innern Werthe ruhend, als die höchste Eigenschaft des Menschen an- gesehen wird. Und so hören wir, daſs die Menge immer zuerst an den vorzüglichsten Menschen die Bescheidenheit preist, ohne sich auf ihre übrigen Qualitäten sonderlich einzulassen. Bescheidenheit aber ist immer mit Verstellung verknüpft und eine Art Schmeicheley, die um desto wirksamer ist als sie ohne Zudringlichkeit dem andern wohlthut, indem sie ihn in seinem behag- lichen Selbstgefühle nicht irre macht. Alles aber was man gute Gesellschaft nennt, be- steht in einer immer wachsenden Vernei- nung sein selbst, so daſs die Societät zu- letzt ganz Null wird; es müſste denn das Talent sich ausbilden, daſs wir, indem wir

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/418
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 406[408]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/418>, abgerufen am 23.12.2024.