Mit diesem sittlichen Gebrechen, wenn mans dafür halten will, sieht es im West- lande gar wunderlich aus. Bescheidenheit ist eigentlich eine gesellige Tugend, sie deutet auf grosse Ausbildung; sie ist eine Selbstverleugnung nach aussen, welche, auf einem grossen innern Werthe ruhend, als die höchste Eigenschaft des Menschen an- gesehen wird. Und so hören wir, dass die Menge immer zuerst an den vorzüglichsten Menschen die Bescheidenheit preist, ohne sich auf ihre übrigen Qualitäten sonderlich einzulassen. Bescheidenheit aber ist immer mit Verstellung verknüpft und eine Art Schmeicheley, die um desto wirksamer ist als sie ohne Zudringlichkeit dem andern wohlthut, indem sie ihn in seinem behag- lichen Selbstgefühle nicht irre macht. Alles aber was man gute Gesellschaft nennt, be- steht in einer immer wachsenden Vernei- nung sein selbst, so dass die Societät zu- letzt ganz Null wird; es müsste denn das Talent sich ausbilden, dass wir, indem wir
Mit diesem sittlichen Gebrechen, wenn mans dafür halten will, sieht es im West- lande gar wunderlich aus. Bescheidenheit ist eigentlich eine gesellige Tugend, sie deutet auf groſse Ausbildung; sie ist eine Selbstverleugnung nach auſsen, welche, auf einem groſsen innern Werthe ruhend, als die höchste Eigenschaft des Menschen an- gesehen wird. Und so hören wir, daſs die Menge immer zuerst an den vorzüglichsten Menschen die Bescheidenheit preist, ohne sich auf ihre übrigen Qualitäten sonderlich einzulassen. Bescheidenheit aber ist immer mit Verstellung verknüpft und eine Art Schmeicheley, die um desto wirksamer ist als sie ohne Zudringlichkeit dem andern wohlthut, indem sie ihn in seinem behag- lichen Selbstgefühle nicht irre macht. Alles aber was man gute Gesellschaft nennt, be- steht in einer immer wachsenden Vernei- nung sein selbst, so daſs die Societät zu- letzt ganz Null wird; es müſste denn das Talent sich ausbilden, daſs wir, indem wir
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[406[408]/0418]
geringste Veranlassung sogleich gewaltsam
hervorspringt.
Mit diesem sittlichen Gebrechen, wenn
mans dafür halten will, sieht es im West-
lande gar wunderlich aus. Bescheidenheit
ist eigentlich eine gesellige Tugend, sie
deutet auf groſse Ausbildung; sie ist eine
Selbstverleugnung nach auſsen, welche, auf
einem groſsen innern Werthe ruhend, als
die höchste Eigenschaft des Menschen an-
gesehen wird. Und so hören wir, daſs die
Menge immer zuerst an den vorzüglichsten
Menschen die Bescheidenheit preist, ohne
sich auf ihre übrigen Qualitäten sonderlich
einzulassen. Bescheidenheit aber ist immer
mit Verstellung verknüpft und eine Art
Schmeicheley, die um desto wirksamer ist
als sie ohne Zudringlichkeit dem andern
wohlthut, indem sie ihn in seinem behag-
lichen Selbstgefühle nicht irre macht. Alles
aber was man gute Gesellschaft nennt, be-
steht in einer immer wachsenden Vernei-
nung sein selbst, so daſs die Societät zu-
letzt ganz Null wird; es müſste denn das
Talent sich ausbilden, daſs wir, indem wir
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 406[408]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/418>, abgerufen am 22.11.2024.
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