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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

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ausdrückten und dadurch eingestanden dass
sie besser als wir unser Innerstes zu ent-
falten gewusst.

Um aber zu unserm eigentlichen Zweck
zu gelangen, erinnern wir an eine, zwar
wohlbekannte, aber doch immer geheim-
nissvolle Weise, sich in Chiffern mitzuthei-
len. Wenn nämlich zwey Personen, die
ein Buch verabreden und indem sie Seiten-
und Zeilenzahl zu einem Briefe verbinden,
gewiss sind, dass der Empfänger mit ge-
ringem Bemühen den Sinn zusammen finden
werde.

Das Lied, welches wir mit der Rubrik
Chiffer bezeichnet, will auf eine solche
Verabredung hindeuten. Liebende werden
einig Hafisens Gedichte zum Werkzeug ih-
res Gefühlwechsels zu legen; sie bezeich-
nen Seite und Zeile die ihren gegenwärti-
gen Zustand ausdrückt, und so entstehen
zusammengeschriebene Lieder vom schön-
sten Ausdruck; herrliche zerstreute Stellen
des unschätzbaren Dichters werden durch
Leidenschaft und Gefühl verbunden, Nei-
gung und Wahl verleihen dem Ganzen ein
inneres Leben und die Entfernten finden

ausdrückten und dadurch eingestanden daſs
sie besser als wir unser Innerstes zu ent-
falten gewuſst.

Um aber zu unserm eigentlichen Zweck
zu gelangen, erinnern wir an eine, zwar
wohlbekannte, aber doch immer geheim-
niſsvolle Weise, sich in Chiffern mitzuthei-
len. Wenn nämlich zwey Personen, die
ein Buch verabreden und indem sie Seiten-
und Zeilenzahl zu einem Briefe verbinden,
gewiſs sind, daſs der Empfänger mit ge-
ringem Bemühen den Sinn zusammen finden
werde.

Das Lied, welches wir mit der Rubrik
Chiffer bezeichnet, will auf eine solche
Verabredung hindeuten. Liebende werden
einig Hafisens Gedichte zum Werkzeug ih-
res Gefühlwechsels zu legen; sie bezeich-
nen Seite und Zeile die ihren gegenwärti-
gen Zustand ausdrückt, und so entstehen
zusammengeschriebene Lieder vom schön-
sten Ausdruck; herrliche zerstreute Stellen
des unschätzbaren Dichters werden durch
Leidenschaft und Gefühl verbunden, Nei-
gung und Wahl verleihen dem Ganzen ein
inneres Leben und die Entfernten finden

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[394/0404] ausdrückten und dadurch eingestanden daſs sie besser als wir unser Innerstes zu ent- falten gewuſst. Um aber zu unserm eigentlichen Zweck zu gelangen, erinnern wir an eine, zwar wohlbekannte, aber doch immer geheim- niſsvolle Weise, sich in Chiffern mitzuthei- len. Wenn nämlich zwey Personen, die ein Buch verabreden und indem sie Seiten- und Zeilenzahl zu einem Briefe verbinden, gewiſs sind, daſs der Empfänger mit ge- ringem Bemühen den Sinn zusammen finden werde. Das Lied, welches wir mit der Rubrik Chiffer bezeichnet, will auf eine solche Verabredung hindeuten. Liebende werden einig Hafisens Gedichte zum Werkzeug ih- res Gefühlwechsels zu legen; sie bezeich- nen Seite und Zeile die ihren gegenwärti- gen Zustand ausdrückt, und so entstehen zusammengeschriebene Lieder vom schön- sten Ausdruck; herrliche zerstreute Stellen des unschätzbaren Dichters werden durch Leidenschaft und Gefühl verbunden, Nei- gung und Wahl verleihen dem Ganzen ein inneres Leben und die Entfernten finden

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/404>, abgerufen am 23.07.2024.