Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite

Nisami griff mit freundlicher Gewalt
alles auf, was von Liebes- und Halbwun-
derlegende in seinem Bezirk vorhanden seyn
mochte. Schon im Koran war die Andeu-
tung gegeben, wie man uralte lakonische
Ueberlieferungen zu eigenen Zwecken be-
handeln, ausführen und in gewisser Weit-
läuftigkeit könne ergötzlich machen.

Dschelaleddin Rumi findet sich
unbehaglich auf dem problematischen Boden
der Wirklichkeit, und sucht die Räthsel
der innern und äussern Erscheinungen auf
geistige, geistreiche Weise zu lösen, daher
sind seine Werke neue Räthsel, neuer Auf-
lösungen und Commentare bedürftig. End-
lich fühlt er sich gedrungen in die Allei-
nigkeits-Lehre zu flüchten, wodurch soviel
gewonnen als verloren wird, und zuletzt
das, so tröstliche als untröstliche, Zero
übrig bleibt. Wie sollte nun also irgend
eine Rede-Mittheilung poetisch oder pro-
saisch weiter gelingen? Glücklicherweise
wird

Saadi, der Treffliche, in die weite
Welt getrieben, mit gränzenlosen Einzeln-
heiten der Empirie überhäuft, denen er

Nisami griff mit freundlicher Gewalt
alles auf, was von Liebes- und Halbwun-
derlegende in seinem Bezirk vorhanden seyn
mochte. Schon im Koran war die Andeu-
tung gegeben, wie man uralte lakonische
Ueberlieferungen zu eigenen Zwecken be-
handeln, ausführen und in gewisser Weit-
läuftigkeit könne ergötzlich machen.

Dschelaleddin Rumi findet sich
unbehaglich auf dem problematischen Boden
der Wirklichkeit, und sucht die Räthsel
der innern und äuſsern Erscheinungen auf
geistige, geistreiche Weise zu lösen, daher
sind seine Werke neue Räthsel, neuer Auf-
lösungen und Commentare bedürftig. End-
lich fühlt er sich gedrungen in die Allei-
nigkeits-Lehre zu flüchten, wodurch soviel
gewonnen als verloren wird, und zuletzt
das, so tröstliche als untröstliche, Zero
übrig bleibt. Wie sollte nun also irgend
eine Rede-Mittheilung poetisch oder pro-
saisch weiter gelingen? Glücklicherweise
wird

Saadi, der Treffliche, in die weite
Welt getrieben, mit gränzenlosen Einzeln-
heiten der Empirie überhäuft, denen er

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0332" n="322"/>
          <p><hi rendition="#g">Nisami</hi> griff mit freundlicher Gewalt<lb/>
alles auf, was von Liebes- und Halbwun-<lb/>
derlegende in seinem Bezirk vorhanden seyn<lb/>
mochte. Schon im Koran war die Andeu-<lb/>
tung gegeben, wie man uralte lakonische<lb/>
Ueberlieferungen zu eigenen Zwecken be-<lb/>
handeln, ausführen und in gewisser Weit-<lb/>
läuftigkeit könne ergötzlich machen.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Dschelaleddin Rumi</hi> findet sich<lb/>
unbehaglich auf dem problematischen Boden<lb/>
der Wirklichkeit, und sucht die Räthsel<lb/>
der innern und äu&#x017F;sern Erscheinungen auf<lb/>
geistige, geistreiche Weise zu lösen, daher<lb/>
sind seine Werke neue Räthsel, neuer Auf-<lb/>
lösungen und Commentare bedürftig. End-<lb/>
lich fühlt er sich gedrungen in die Allei-<lb/>
nigkeits-Lehre zu flüchten, wodurch soviel<lb/>
gewonnen als verloren wird, und zuletzt<lb/>
das, so tröstliche als untröstliche, Zero<lb/>
übrig bleibt. Wie sollte nun also irgend<lb/>
eine Rede-Mittheilung poetisch oder pro-<lb/>
saisch weiter gelingen? Glücklicherweise<lb/>
wird</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Saadi</hi>, der Treffliche, in die weite<lb/>
Welt getrieben, mit gränzenlosen Einzeln-<lb/>
heiten der Empirie überhäuft, denen er<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[322/0332] Nisami griff mit freundlicher Gewalt alles auf, was von Liebes- und Halbwun- derlegende in seinem Bezirk vorhanden seyn mochte. Schon im Koran war die Andeu- tung gegeben, wie man uralte lakonische Ueberlieferungen zu eigenen Zwecken be- handeln, ausführen und in gewisser Weit- läuftigkeit könne ergötzlich machen. Dschelaleddin Rumi findet sich unbehaglich auf dem problematischen Boden der Wirklichkeit, und sucht die Räthsel der innern und äuſsern Erscheinungen auf geistige, geistreiche Weise zu lösen, daher sind seine Werke neue Räthsel, neuer Auf- lösungen und Commentare bedürftig. End- lich fühlt er sich gedrungen in die Allei- nigkeits-Lehre zu flüchten, wodurch soviel gewonnen als verloren wird, und zuletzt das, so tröstliche als untröstliche, Zero übrig bleibt. Wie sollte nun also irgend eine Rede-Mittheilung poetisch oder pro- saisch weiter gelingen? Glücklicherweise wird Saadi, der Treffliche, in die weite Welt getrieben, mit gränzenlosen Einzeln- heiten der Empirie überhäuft, denen er

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/332
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/332>, abgerufen am 23.12.2024.