sie bibelfest und ein solcher Beyname gab eine vorzügliche Würde und unzwey- deutige Empfehlung.
Das was nun bey uns Christen aus na- türlicher Anlage und gutem Willen ent- sprang, war bey den Mahometanern Pflicht: denn indem es einem solchen Glaubensgenos- sen zum grössten Verdienst gereichte Abschrif- ten des Korans selbst zu vervielfältigen oder vervielfältigen zu lassen, so war es kein geringeres denselben auswendig zu lernen, um bey jedem Anlass die gehörigen Stellen anfüh- ren, Erbauung befördern, Streitigkeit schlich- ten zu können. Man benannte solche Per- sonen mit dem Ehrentitel Hafis, und die- ser ist unserm Dichter als bezeichnender Hauptname geblieben.
Nun ward, gar bald nach seinem Ur- sprunge, der Koran ein Gegenstand der un- endlichsten Auslegungen, gab Gelegenheit zu den spitzfindigsten Subtilitäten und, in- dem er die Sinnesweise eines jeden aufregte, entstanden gränzenlos abweichende Meinun- gen, verrückte Combinationen, ja die un- vernünftigsten Beziehungen aller Art wur- den versucht, so dass der eigentlich geist-
sie bibelfest und ein solcher Beyname gab eine vorzügliche Würde und unzwey- deutige Empfehlung.
Das was nun bey uns Christen aus na- türlicher Anlage und gutem Willen ent- sprang, war bey den Mahometanern Pflicht: denn indem es einem solchen Glaubensgenos- sen zum gröſsten Verdienst gereichte Abschrif- ten des Korans selbst zu vervielfältigen oder vervielfältigen zu lassen, so war es kein geringeres denselben auswendig zu lernen, um bey jedem Anlaſs die gehörigen Stellen anfüh- ren, Erbauung befördern, Streitigkeit schlich- ten zu können. Man benannte solche Per- sonen mit dem Ehrentitel Hafis, und die- ser ist unserm Dichter als bezeichnender Hauptname geblieben.
Nun ward, gar bald nach seinem Ur- sprunge, der Koran ein Gegenstand der un- endlichsten Auslegungen, gab Gelegenheit zu den spitzfindigsten Subtilitäten und, in- dem er die Sinnesweise eines jeden aufregte, entstanden gränzenlos abweichende Meinun- gen, verrückte Combinationen, ja die un- vernünftigsten Beziehungen aller Art wur- den versucht, so daſs der eigentlich geist-
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sie bibelfest und ein solcher Beyname
gab eine vorzügliche Würde und unzwey-
deutige Empfehlung.
Das was nun bey uns Christen aus na-
türlicher Anlage und gutem Willen ent-
sprang, war bey den Mahometanern Pflicht:
denn indem es einem solchen Glaubensgenos-
sen zum gröſsten Verdienst gereichte Abschrif-
ten des Korans selbst zu vervielfältigen oder
vervielfältigen zu lassen, so war es kein
geringeres denselben auswendig zu lernen, um
bey jedem Anlaſs die gehörigen Stellen anfüh-
ren, Erbauung befördern, Streitigkeit schlich-
ten zu können. Man benannte solche Per-
sonen mit dem Ehrentitel Hafis, und die-
ser ist unserm Dichter als bezeichnender
Hauptname geblieben.
Nun ward, gar bald nach seinem Ur-
sprunge, der Koran ein Gegenstand der un-
endlichsten Auslegungen, gab Gelegenheit
zu den spitzfindigsten Subtilitäten und, in-
dem er die Sinnesweise eines jeden aufregte,
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/325>, abgerufen am 23.12.2024.
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