Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite

sie bibelfest und ein solcher Beyname
gab eine vorzügliche Würde und unzwey-
deutige Empfehlung.

Das was nun bey uns Christen aus na-
türlicher Anlage und gutem Willen ent-
sprang, war bey den Mahometanern Pflicht:
denn indem es einem solchen Glaubensgenos-
sen zum grössten Verdienst gereichte Abschrif-
ten des Korans selbst zu vervielfältigen oder
vervielfältigen zu lassen, so war es kein
geringeres denselben auswendig zu lernen, um
bey jedem Anlass die gehörigen Stellen anfüh-
ren, Erbauung befördern, Streitigkeit schlich-
ten zu können. Man benannte solche Per-
sonen mit dem Ehrentitel Hafis, und die-
ser ist unserm Dichter als bezeichnender
Hauptname geblieben.

Nun ward, gar bald nach seinem Ur-
sprunge, der Koran ein Gegenstand der un-
endlichsten Auslegungen, gab Gelegenheit
zu den spitzfindigsten Subtilitäten und, in-
dem er die Sinnesweise eines jeden aufregte,
entstanden gränzenlos abweichende Meinun-
gen, verrückte Combinationen, ja die un-
vernünftigsten Beziehungen aller Art wur-
den versucht, so dass der eigentlich geist-

sie bibelfest und ein solcher Beyname
gab eine vorzügliche Würde und unzwey-
deutige Empfehlung.

Das was nun bey uns Christen aus na-
türlicher Anlage und gutem Willen ent-
sprang, war bey den Mahometanern Pflicht:
denn indem es einem solchen Glaubensgenos-
sen zum gröſsten Verdienst gereichte Abschrif-
ten des Korans selbst zu vervielfältigen oder
vervielfältigen zu lassen, so war es kein
geringeres denselben auswendig zu lernen, um
bey jedem Anlaſs die gehörigen Stellen anfüh-
ren, Erbauung befördern, Streitigkeit schlich-
ten zu können. Man benannte solche Per-
sonen mit dem Ehrentitel Hafis, und die-
ser ist unserm Dichter als bezeichnender
Hauptname geblieben.

Nun ward, gar bald nach seinem Ur-
sprunge, der Koran ein Gegenstand der un-
endlichsten Auslegungen, gab Gelegenheit
zu den spitzfindigsten Subtilitäten und, in-
dem er die Sinnesweise eines jeden aufregte,
entstanden gränzenlos abweichende Meinun-
gen, verrückte Combinationen, ja die un-
vernünftigsten Beziehungen aller Art wur-
den versucht, so daſs der eigentlich geist-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0325" n="315"/>
sie <hi rendition="#g">bibelfest</hi> und ein solcher Beyname<lb/>
gab eine vorzügliche Würde und unzwey-<lb/>
deutige Empfehlung.</p><lb/>
          <p>Das was nun bey uns Christen aus na-<lb/>
türlicher Anlage und gutem Willen ent-<lb/>
sprang, war bey den Mahometanern Pflicht:<lb/>
denn indem es einem solchen Glaubensgenos-<lb/>
sen zum grö&#x017F;sten Verdienst gereichte Abschrif-<lb/>
ten des Korans selbst zu vervielfältigen oder<lb/>
vervielfältigen zu lassen, so war es kein<lb/>
geringeres denselben auswendig zu lernen, um<lb/>
bey jedem Anla&#x017F;s die gehörigen Stellen anfüh-<lb/>
ren, Erbauung befördern, Streitigkeit schlich-<lb/>
ten zu können. Man benannte solche Per-<lb/>
sonen mit dem Ehrentitel <hi rendition="#g">Hafis</hi>, und die-<lb/>
ser ist unserm Dichter als bezeichnender<lb/>
Hauptname geblieben.</p><lb/>
          <p>Nun ward, gar bald nach seinem Ur-<lb/>
sprunge, der Koran ein Gegenstand der un-<lb/>
endlichsten Auslegungen, gab Gelegenheit<lb/>
zu den spitzfindigsten Subtilitäten und, in-<lb/>
dem er die Sinnesweise eines jeden aufregte,<lb/>
entstanden gränzenlos abweichende Meinun-<lb/>
gen, verrückte Combinationen, ja die un-<lb/>
vernünftigsten Beziehungen aller Art wur-<lb/>
den versucht, so da&#x017F;s der eigentlich geist-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[315/0325] sie bibelfest und ein solcher Beyname gab eine vorzügliche Würde und unzwey- deutige Empfehlung. Das was nun bey uns Christen aus na- türlicher Anlage und gutem Willen ent- sprang, war bey den Mahometanern Pflicht: denn indem es einem solchen Glaubensgenos- sen zum gröſsten Verdienst gereichte Abschrif- ten des Korans selbst zu vervielfältigen oder vervielfältigen zu lassen, so war es kein geringeres denselben auswendig zu lernen, um bey jedem Anlaſs die gehörigen Stellen anfüh- ren, Erbauung befördern, Streitigkeit schlich- ten zu können. Man benannte solche Per- sonen mit dem Ehrentitel Hafis, und die- ser ist unserm Dichter als bezeichnender Hauptname geblieben. Nun ward, gar bald nach seinem Ur- sprunge, der Koran ein Gegenstand der un- endlichsten Auslegungen, gab Gelegenheit zu den spitzfindigsten Subtilitäten und, in- dem er die Sinnesweise eines jeden aufregte, entstanden gränzenlos abweichende Meinun- gen, verrückte Combinationen, ja die un- vernünftigsten Beziehungen aller Art wur- den versucht, so daſs der eigentlich geist-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/325
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/325>, abgerufen am 23.12.2024.