Nation gemäss verfasst worden, welche ih- ren Ruhm auf alte Ueberlieferungen grün- det und an herkömmlichen Sitten festhält.
In seiner Abneigung gegen Poesie er- scheint Mahomet auch höchst consequent, in- dem er alle Mährchen verbietet. Diese Spiele einer leichtfertigen Einbildungskraft, die vom Wirklichen bis zum Unmöglichen hin- und wiederschwebt, und das Unwahrscheinliche als ein Wahrhaftes und Zweifelloses vor- trägt, waren der orientalischen Sinnlichkeit, einer weichen Ruhe und bequemem Müssig- gang höchst angemessen. Diese Luftge- bilde über einem wunderlichen Boden schwan- kend, hatten sich zur Zeit der Sassaniden in's Unendliche vermehrt, wie sie uns Tau- send und Eine Nacht, an einen losen Fa- den gereiht, als Beispiele darlegt. Ihr ei- gentlicher Charakter ist, dass sie keinen sittlichen Zweck haben und daher den Men- schen nicht auf sich selbst zurück, sondern ausser sich hinaus ins unbedingte Freie füh- ren und tragen. Gerade das Entgegenge- setzte wollte Mahomet bewirken. Man sehe wie er die Ueberlieferungen des alten Testaments und die Ereignisse patriarchali-
Nation gemäſs verfaſst worden, welche ih- ren Ruhm auf alte Ueberlieferungen grün- det und an herkömmlichen Sitten festhält.
In seiner Abneigung gegen Poesie er- scheint Mahomet auch höchst consequent, in- dem er alle Mährchen verbietet. Diese Spiele einer leichtfertigen Einbildungskraft, die vom Wirklichen bis zum Unmöglichen hin- und wiederſchwebt, und das Unwahrscheinliche als ein Wahrhaftes und Zweifelloses vor- trägt, waren der orientalischen Sinnlichkeit, einer weichen Ruhe und bequemem Müssig- gang höchst angemessen. Diese Luftge- bilde über einem wunderlichen Boden schwan- kend, hatten ſich zur Zeit der Sassaniden in’s Unendliche vermehrt, wie ſie uns Tau- send und Eine Nacht, an einen loſen Fa- den gereiht, als Beispiele darlegt. Ihr ei- gentlicher Charakter ist, daſs ſie keinen ſittlichen Zweck haben und daher den Men- schen nicht auf ſich selbst zurück, sondern auſser ſich hinaus ins unbedingte Freie füh- ren und tragen. Gerade das Entgegenge- setzte wollte Mahomet bewirken. Man sehe wie er die Ueberlieferungen des alten Testaments und die Ereignisse patriarchali-
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Nation gemäſs verfaſst worden, welche ih-
ren Ruhm auf alte Ueberlieferungen grün-
det und an herkömmlichen Sitten festhält.
In seiner Abneigung gegen Poesie er-
scheint Mahomet auch höchst consequent, in-
dem er alle Mährchen verbietet. Diese Spiele
einer leichtfertigen Einbildungskraft, die vom
Wirklichen bis zum Unmöglichen hin- und
wiederſchwebt, und das Unwahrscheinliche
als ein Wahrhaftes und Zweifelloses vor-
trägt, waren der orientalischen Sinnlichkeit,
einer weichen Ruhe und bequemem Müssig-
gang höchst angemessen. Diese Luftge-
bilde über einem wunderlichen Boden schwan-
kend, hatten ſich zur Zeit der Sassaniden
in’s Unendliche vermehrt, wie ſie uns Tau-
send und Eine Nacht, an einen loſen Fa-
den gereiht, als Beispiele darlegt. Ihr ei-
gentlicher Charakter ist, daſs ſie keinen
ſittlichen Zweck haben und daher den Men-
schen nicht auf ſich selbst zurück, sondern
auſser ſich hinaus ins unbedingte Freie füh-
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/296>, abgerufen am 23.12.2024.
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