[Görres, Joseph:] [Rezension zu:] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim u. C. Brentano. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Fünfte Abtheilung. Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst, Jg. 2 (1809), Bd. 1, Heft 5, S. 222‒237 und Jg. 3 (1810), Bd. 2, Heft 9, S. 30‒52.eingelegt, andere mannigfaltig restaurirt, und durch Zusammenschieben fragmentarisch geschiedner Theile sie zu einem zusammenhängenden Ganzen gefügt, und sich also beynahe alle die Freyheiten genommen, die wir eben als störend die eigentliche Geschichte dieser Gattung angeführt. Die Heraugeber wollten nicht eine Chronik deutschen Volksgesanges geben, das würde bey dem unmäßigen Umfange dieser Gattung und bey dem vielen Schlechten, das sie aufgenommen, eine unerschwingliche und undankbare Unternehmung gewesen seyn; sie wollten vielmehr in Einen Brennpunct die, durch das Volk zerstreuten Strahlen sammeln, um im engsten Raume eingeschlossen, was über die Weite unscheinbar auseinander gelaufen, der Anschauung vorzuführen. Oft genug mußte der Fall eintreten, daß von guten Gedichten nur ein Haufen Trümmer sich erhalten hatte. Der Witz gefiel sich darin, diese Fragmente so zu ordnen, daß aus fremdartigen Gliedern verschiedner Gestaltungen doch ein Bild erwuchs, das nichts Widersprechendes in seiner Zusammensetzung zeigte. Ein solches Spiel, in der Plastik kaum auszuführen, muß in der Poesie als ein Erlaubtes zugegeben werden. Oefter noch mußte einiges Gute Schlechtem oder Mittelmäßigem eingesprengt erscheinen, die Sammler pochten das Metall heraus, und man würde ihnen wenig Dank gewußt haben, wenn sie das taube Gestein mitgegeben hätten. Was aber die eingelegten Gedichte selbst betrifft, so kommt es dabey hauptsächlich auf die Frage an, ob dabey der Geist des Volksmäßigen geehrt und getroffen worden, oder ob die Subjectivität der Dichter durchgeschlagen, und dadurch etwas Fremdartiges der reinen Masse zugemischt worden sey. Aber alles, und nur Hinzugedichtetes laufen so in einem Tone und Charakter fort, daß es schwer werden sollte, ohne anderweitige Nachweisung mit entscheidender Gewißheit anzugeben, wo das Eine aufhört, und das Andere anfängt. Jn Sachen der Poesie ist es ein anderes als in den der Wissenschaft; der Geschichtschreiber muß mit Treue sammeln, was sich vorfindet, jede untergeschobene Thatsache ist eine Lüge, über die Rechenschaft von ihm gefodert werden kann. Jn der Kunst aber ist nur das Häßliche die Lüge, ihre Werke sind an die Zeit gebunden nur für die Entstehung, keineswegs aber für die Anschauung; ihr könnt alle Gedichte dieser Sammlung betrachten, als wären sie heute entstanden, oder vor Jahrhunderten, an ihrem Wesen wird nichts dadurch geändert. Ein Werk, in ihrem Geist und Charakter vollendet, wird allein dadurch auch aufgenommen in ihre Genossenschaft; Fremdes aber und Gemeines, habe es auch durch viele Zeiten fortgewuchert, wird ausgestoßen und weggeworfen aus der Gemeinschaft. Wollte ein Meister uns eingelegt, andere mannigfaltig restaurirt, und durch Zusammenschieben fragmentarisch geschiedner Theile sie zu einem zusammenhaͤngenden Ganzen gefuͤgt, und sich also beynahe alle die Freyheiten genommen, die wir eben als stoͤrend die eigentliche Geschichte dieser Gattung angefuͤhrt. Die Heraugeber wollten nicht eine Chronik deutschen Volksgesanges geben, das wuͤrde bey dem unmaͤßigen Umfange dieser Gattung und bey dem vielen Schlechten, das sie aufgenommen, eine unerschwingliche und undankbare Unternehmung gewesen seyn; sie wollten vielmehr in Einen Brennpunct die, durch das Volk zerstreuten Strahlen sammeln, um im engsten Raume eingeschlossen, was uͤber die Weite unscheinbar auseinander gelaufen, der Anschauung vorzufuͤhren. Oft genug mußte der Fall eintreten, daß von guten Gedichten nur ein Haufen Truͤmmer sich erhalten hatte. Der Witz gefiel sich darin, diese Fragmente so zu ordnen, daß aus fremdartigen Gliedern verschiedner Gestaltungen doch ein Bild erwuchs, das nichts Widersprechendes in seiner Zusammensetzung zeigte. Ein solches Spiel, in der Plastik kaum auszufuͤhren, muß in der Poesie als ein Erlaubtes zugegeben werden. Oefter noch mußte einiges Gute Schlechtem oder Mittelmaͤßigem eingesprengt erscheinen, die Sammler pochten das Metall heraus, und man wuͤrde ihnen wenig Dank gewußt haben, wenn sie das taube Gestein mitgegeben haͤtten. Was aber die eingelegten Gedichte selbst betrifft, so kommt es dabey hauptsaͤchlich auf die Frage an, ob dabey der Geist des Volksmaͤßigen geehrt und getroffen worden, oder ob die Subjectivitaͤt der Dichter durchgeschlagen, und dadurch etwas Fremdartiges der reinen Masse zugemischt worden sey. Aber alles, und nur Hinzugedichtetes laufen so in einem Tone und Charakter fort, daß es schwer werden sollte, ohne anderweitige Nachweisung mit entscheidender Gewißheit anzugeben, wo das Eine aufhoͤrt, und das Andere anfaͤngt. Jn Sachen der Poesie ist es ein anderes als in den der Wissenschaft; der Geschichtschreiber muß mit Treue sammeln, was sich vorfindet, jede untergeschobene Thatsache ist eine Luͤge, uͤber die Rechenschaft von ihm gefodert werden kann. Jn der Kunst aber ist nur das Haͤßliche die Luͤge, ihre Werke sind an die Zeit gebunden nur fuͤr die Entstehung, keineswegs aber fuͤr die Anschauung; ihr koͤnnt alle Gedichte dieser Sammlung betrachten, als waͤren sie heute entstanden, oder vor Jahrhunderten, an ihrem Wesen wird nichts dadurch geaͤndert. Ein Werk, in ihrem Geist und Charakter vollendet, wird allein dadurch auch aufgenommen in ihre Genossenschaft; Fremdes aber und Gemeines, habe es auch durch viele Zeiten fortgewuchert, wird ausgestoßen und weggeworfen aus der Gemeinschaft. Wollte ein Meister uns <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0039" n="51"/> eingelegt, andere mannigfaltig restaurirt, und durch Zusammenschieben fragmentarisch geschiedner Theile sie zu einem zusammenhaͤngenden Ganzen gefuͤgt, und sich also beynahe alle die Freyheiten genommen, die wir eben als stoͤrend die eigentliche Geschichte dieser Gattung angefuͤhrt. Die Heraugeber wollten nicht eine Chronik deutschen Volksgesanges geben, das wuͤrde bey dem unmaͤßigen Umfange dieser Gattung und bey dem vielen Schlechten, das sie aufgenommen, eine unerschwingliche und undankbare Unternehmung gewesen seyn; sie wollten vielmehr in Einen Brennpunct die, durch das Volk zerstreuten Strahlen sammeln, um im engsten Raume eingeschlossen, was uͤber die Weite unscheinbar auseinander gelaufen, der Anschauung vorzufuͤhren. Oft genug mußte der Fall eintreten, daß von guten Gedichten nur ein Haufen Truͤmmer sich erhalten hatte. Der Witz gefiel sich darin, diese Fragmente so zu ordnen, daß aus fremdartigen Gliedern verschiedner Gestaltungen doch ein Bild erwuchs, das nichts Widersprechendes in seiner Zusammensetzung zeigte. Ein solches Spiel, in der Plastik kaum auszufuͤhren, muß in der Poesie als ein Erlaubtes zugegeben werden. Oefter noch mußte einiges Gute Schlechtem oder Mittelmaͤßigem eingesprengt erscheinen, die Sammler pochten das Metall heraus, und man wuͤrde ihnen wenig Dank gewußt haben, wenn sie das taube Gestein mitgegeben haͤtten. Was aber die eingelegten Gedichte selbst betrifft, so kommt es dabey hauptsaͤchlich auf die Frage an, ob dabey der Geist des Volksmaͤßigen geehrt und getroffen worden, oder ob die Subjectivitaͤt der Dichter durchgeschlagen, und dadurch etwas Fremdartiges der reinen Masse zugemischt worden sey. Aber alles, und nur Hinzugedichtetes laufen so in einem Tone und Charakter fort, daß es schwer werden sollte, ohne anderweitige Nachweisung mit entscheidender Gewißheit anzugeben, wo das Eine aufhoͤrt, und das Andere anfaͤngt. Jn Sachen der Poesie ist es ein anderes als in den der Wissenschaft; der Geschichtschreiber muß mit Treue sammeln, was sich vorfindet, jede untergeschobene Thatsache ist eine Luͤge, uͤber die Rechenschaft von ihm gefodert werden kann. Jn der Kunst aber ist nur das Haͤßliche die Luͤge, ihre Werke sind an die Zeit gebunden nur fuͤr die Entstehung, keineswegs aber fuͤr die Anschauung; ihr koͤnnt alle Gedichte dieser Sammlung betrachten, als waͤren sie heute entstanden, oder vor Jahrhunderten, an ihrem Wesen wird nichts dadurch geaͤndert. Ein Werk, in ihrem Geist und Charakter vollendet, wird allein dadurch auch aufgenommen in ihre Genossenschaft; Fremdes aber und Gemeines, habe es auch durch viele Zeiten fortgewuchert, wird ausgestoßen und weggeworfen aus der Gemeinschaft. Wollte ein Meister uns<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [51/0039]
eingelegt, andere mannigfaltig restaurirt, und durch Zusammenschieben fragmentarisch geschiedner Theile sie zu einem zusammenhaͤngenden Ganzen gefuͤgt, und sich also beynahe alle die Freyheiten genommen, die wir eben als stoͤrend die eigentliche Geschichte dieser Gattung angefuͤhrt. Die Heraugeber wollten nicht eine Chronik deutschen Volksgesanges geben, das wuͤrde bey dem unmaͤßigen Umfange dieser Gattung und bey dem vielen Schlechten, das sie aufgenommen, eine unerschwingliche und undankbare Unternehmung gewesen seyn; sie wollten vielmehr in Einen Brennpunct die, durch das Volk zerstreuten Strahlen sammeln, um im engsten Raume eingeschlossen, was uͤber die Weite unscheinbar auseinander gelaufen, der Anschauung vorzufuͤhren. Oft genug mußte der Fall eintreten, daß von guten Gedichten nur ein Haufen Truͤmmer sich erhalten hatte. Der Witz gefiel sich darin, diese Fragmente so zu ordnen, daß aus fremdartigen Gliedern verschiedner Gestaltungen doch ein Bild erwuchs, das nichts Widersprechendes in seiner Zusammensetzung zeigte. Ein solches Spiel, in der Plastik kaum auszufuͤhren, muß in der Poesie als ein Erlaubtes zugegeben werden. Oefter noch mußte einiges Gute Schlechtem oder Mittelmaͤßigem eingesprengt erscheinen, die Sammler pochten das Metall heraus, und man wuͤrde ihnen wenig Dank gewußt haben, wenn sie das taube Gestein mitgegeben haͤtten. Was aber die eingelegten Gedichte selbst betrifft, so kommt es dabey hauptsaͤchlich auf die Frage an, ob dabey der Geist des Volksmaͤßigen geehrt und getroffen worden, oder ob die Subjectivitaͤt der Dichter durchgeschlagen, und dadurch etwas Fremdartiges der reinen Masse zugemischt worden sey. Aber alles, und nur Hinzugedichtetes laufen so in einem Tone und Charakter fort, daß es schwer werden sollte, ohne anderweitige Nachweisung mit entscheidender Gewißheit anzugeben, wo das Eine aufhoͤrt, und das Andere anfaͤngt. Jn Sachen der Poesie ist es ein anderes als in den der Wissenschaft; der Geschichtschreiber muß mit Treue sammeln, was sich vorfindet, jede untergeschobene Thatsache ist eine Luͤge, uͤber die Rechenschaft von ihm gefodert werden kann. Jn der Kunst aber ist nur das Haͤßliche die Luͤge, ihre Werke sind an die Zeit gebunden nur fuͤr die Entstehung, keineswegs aber fuͤr die Anschauung; ihr koͤnnt alle Gedichte dieser Sammlung betrachten, als waͤren sie heute entstanden, oder vor Jahrhunderten, an ihrem Wesen wird nichts dadurch geaͤndert. Ein Werk, in ihrem Geist und Charakter vollendet, wird allein dadurch auch aufgenommen in ihre Genossenschaft; Fremdes aber und Gemeines, habe es auch durch viele Zeiten fortgewuchert, wird ausgestoßen und weggeworfen aus der Gemeinschaft. Wollte ein Meister uns
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