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Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807.

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nothwendig Fleisch werden, damit er sie erkennen und
ausrotten möge. Ich weiß recht gut, was man gegen
die Popularisirung der Heilkunde eingewendet hat;
aber wer hinter die schönen Worte sieht, der findet
nur zu oft die Unlauterkeit verborgen, die sie eingege-
ben hat. Still und verhüllt, wie die Natur in den
Eingeweiden der Erde wirkt, so wirkt sie auch in
den Tiefen des menschlichen Körpers, die Menschen
und ihr Verstand sind über Beide gleich wenig Meister
noch geworden. An der Oberfläche pflügen, säen,
graben, ärndten sie, aber das matteste Zucken des
großen Körpers, das schwächste Erdbeben, vermag
keine Menschenkraft noch zu bändigen. Nach vielen
Jahrhunderten des Dünkels und der Hoffart, ist denn
auch die Heilkunde bald so weit gekommen, daß sie
weiß wie wenig sie vermag, und daß auch im Leben
die Natur ihren großen Gang durchgeht, wie die hö-
heren Gestirne es gebieten, unbekümmert um die klei-
nen Zauberkreise, die Formeln, und alles Prickeln
des Verstandes. Es ziemt ihr daher wohl auch, die
hohe Sprache gegen die sogenannte quacksalbernde
Empirie abzulegen: seitdem die Bücherweisheit Ge-
meingut geworden ist, kennen wir unsere Schwäche
wechselseitig, die vornehme Miene will sich nicht mehr
behaupten lassen, wir thun daher wohl, wenn wir

nothwendig Fleiſch werden, damit er ſie erkennen und
ausrotten möge. Ich weiß recht gut, was man gegen
die Populariſirung der Heilkunde eingewendet hat;
aber wer hinter die ſchönen Worte ſieht, der findet
nur zu oft die Unlauterkeit verborgen, die ſie eingege-
ben hat. Still und verhüllt, wie die Natur in den
Eingeweiden der Erde wirkt, ſo wirkt ſie auch in
den Tiefen des menſchlichen Körpers, die Menſchen
und ihr Verſtand ſind über Beide gleich wenig Meiſter
noch geworden. An der Oberfläche pflügen, ſäen,
graben, ärndten ſie, aber das matteſte Zucken des
großen Körpers, das ſchwächſte Erdbeben, vermag
keine Menſchenkraft noch zu bändigen. Nach vielen
Jahrhunderten des Dünkels und der Hoffart, iſt denn
auch die Heilkunde bald ſo weit gekommen, daß ſie
weiß wie wenig ſie vermag, und daß auch im Leben
die Natur ihren großen Gang durchgeht, wie die hö-
heren Geſtirne es gebieten, unbekümmert um die klei-
nen Zauberkreiſe, die Formeln, und alles Prickeln
des Verſtandes. Es ziemt ihr daher wohl auch, die
hohe Sprache gegen die ſogenannte quackſalbernde
Empirie abzulegen: ſeitdem die Bücherweisheit Ge-
meingut geworden iſt, kennen wir unſere Schwäche
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[32/0050] nothwendig Fleiſch werden, damit er ſie erkennen und ausrotten möge. Ich weiß recht gut, was man gegen die Populariſirung der Heilkunde eingewendet hat; aber wer hinter die ſchönen Worte ſieht, der findet nur zu oft die Unlauterkeit verborgen, die ſie eingege- ben hat. Still und verhüllt, wie die Natur in den Eingeweiden der Erde wirkt, ſo wirkt ſie auch in den Tiefen des menſchlichen Körpers, die Menſchen und ihr Verſtand ſind über Beide gleich wenig Meiſter noch geworden. An der Oberfläche pflügen, ſäen, graben, ärndten ſie, aber das matteſte Zucken des großen Körpers, das ſchwächſte Erdbeben, vermag keine Menſchenkraft noch zu bändigen. Nach vielen Jahrhunderten des Dünkels und der Hoffart, iſt denn auch die Heilkunde bald ſo weit gekommen, daß ſie weiß wie wenig ſie vermag, und daß auch im Leben die Natur ihren großen Gang durchgeht, wie die hö- heren Geſtirne es gebieten, unbekümmert um die klei- nen Zauberkreiſe, die Formeln, und alles Prickeln des Verſtandes. Es ziemt ihr daher wohl auch, die hohe Sprache gegen die ſogenannte quackſalbernde Empirie abzulegen: ſeitdem die Bücherweisheit Ge- meingut geworden iſt, kennen wir unſere Schwäche wechſelſeitig, die vornehme Miene will ſich nicht mehr behaupten laſſen, wir thun daher wohl, wenn wir

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Zitationshilfe: Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/50>, abgerufen am 21.11.2024.