ihnen mehr vorherrscht. Und in den Aeltesten herrscht es noch am meisten vor; jene wunderbare Ansicht von seltsamen Eigenschaften der Naturproducte, z. B. in den Kräuterbüchern dieser Zeit, die die Physik bei ihrem Fortschreiten völlig vernichtet hat, ist in dem Grade poetisch, wie sie unwissenschaftlich ist; und gerade weil sie so alt sind, ist so viel von Poesie in ihnen, so wenig hingegen von Wahrheit. Denn in dem Maaße, wie die Na- turkraft im einzelnen Menschen und im ganzen Volke in jugendlicher Fülle, und in raschem Lebensmuth vor- herrscht, in dem Maaße wird er auch von dem Lebens- rausch besessen, und er taucht mit seinem ganzen Wesen unter in dem frischen warmen Quelle, und ist lauter Phantasie, und Empfindung und Poesie. Wenn aber, nachdem das Ganze in kräftiger Fülle sich geründet hat, die Natur im Menschen zur Vollendung reift: dann sammelt er sich in sich selber wieder, und reißt sich von sich selber los, und tritt nun in seiner Freiheit dieser Natur und seiner ganzen Vergangenheit, eben so als einem Gegenständlichen gegenüber, wie vorher das Ob- ject selbst der ganzen äußern Natur sich entgegensetzte, und mit diesem Gegensatz erwacht zuerst die Reflection und das Nachdenken, und mit ihnen die freie, klare Er- kenntniß, und des Gedankens weites, schrankenloses Reich ist dann geöffnet. Alle diese Schriften sind daher
ihnen mehr vorherrſcht. Und in den Aelteſten herrſcht es noch am meiſten vor; jene wunderbare Anſicht von ſeltſamen Eigenſchaften der Naturproducte, z. B. in den Kräuterbüchern dieſer Zeit, die die Phyſik bei ihrem Fortſchreiten völlig vernichtet hat, iſt in dem Grade poetiſch, wie ſie unwiſſenſchaftlich iſt; und gerade weil ſie ſo alt ſind, iſt ſo viel von Poeſie in ihnen, ſo wenig hingegen von Wahrheit. Denn in dem Maaße, wie die Na- turkraft im einzelnen Menſchen und im ganzen Volke in jugendlicher Fülle, und in raſchem Lebensmuth vor- herrſcht, in dem Maaße wird er auch von dem Lebens- rauſch beſeſſen, und er taucht mit ſeinem ganzen Weſen unter in dem friſchen warmen Quelle, und iſt lauter Phantaſie, und Empfindung und Poeſie. Wenn aber, nachdem das Ganze in kräftiger Fülle ſich geründet hat, die Natur im Menſchen zur Vollendung reift: dann ſammelt er ſich in ſich ſelber wieder, und reißt ſich von ſich ſelber los, und tritt nun in ſeiner Freiheit dieſer Natur und ſeiner ganzen Vergangenheit, eben ſo als einem Gegenſtändlichen gegenüber, wie vorher das Ob- ject ſelbſt der ganzen äußern Natur ſich entgegenſetzte, und mit dieſem Gegenſatz erwacht zuerſt die Reflection und das Nachdenken, und mit ihnen die freie, klare Er- kenntniß, und des Gedankens weites, ſchrankenloſes Reich iſt dann geöffnet. Alle dieſe Schriften ſind daher
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ihnen mehr vorherrſcht. Und in den Aelteſten herrſcht
es noch am meiſten vor; jene wunderbare Anſicht von
ſeltſamen Eigenſchaften der Naturproducte, z. B. in
den Kräuterbüchern dieſer Zeit, die die Phyſik bei ihrem
Fortſchreiten völlig vernichtet hat, iſt in dem Grade
poetiſch, wie ſie unwiſſenſchaftlich iſt; und gerade weil
ſie ſo alt ſind, iſt ſo viel von Poeſie in ihnen, ſo wenig
hingegen von Wahrheit. Denn in dem Maaße, wie die Na-
turkraft im einzelnen Menſchen und im ganzen Volke in
jugendlicher Fülle, und in raſchem Lebensmuth vor-
herrſcht, in dem Maaße wird er auch von dem Lebens-
rauſch beſeſſen, und er taucht mit ſeinem ganzen Weſen
unter in dem friſchen warmen Quelle, und iſt lauter
Phantaſie, und Empfindung und Poeſie. Wenn aber,
nachdem das Ganze in kräftiger Fülle ſich geründet hat,
die Natur im Menſchen zur Vollendung reift: dann
ſammelt er ſich in ſich ſelber wieder, und reißt ſich von
ſich ſelber los, und tritt nun in ſeiner Freiheit dieſer
Natur und ſeiner ganzen Vergangenheit, eben ſo als
einem Gegenſtändlichen gegenüber, wie vorher das Ob-
ject ſelbſt der ganzen äußern Natur ſich entgegenſetzte,
und mit dieſem Gegenſatz erwacht zuerſt die Reflection
und das Nachdenken, und mit ihnen die freie, klare Er-
kenntniß, und des Gedankens weites, ſchrankenloſes
Reich iſt dann geöffnet. Alle dieſe Schriften ſind daher
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Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/38>, abgerufen am 23.11.2024.
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