der Tiefe andere Gaben, als jene die der Himmel spendet; es mußte die Poesie entfliehen, Alles mußte gegen die Industrie sich wenden; von dem was früher geblüht, suchte man die Früchte itzt am Boden auf. So ist denn unsere Zeit, nachdem es Abend vielmal und Morgen geworden, auch geworden, und Gott sah, daß sie gut war in ihrer Schlechtigkeit. Kraftlos nicht, aber unendlich betriebsam und verständig hat in ihr der Erdgeist zwischen Gold und Eisen sich getheilt; mit dem Stahle wühlt sie in den eignen Eingeweiden nach dem Bezoar, der sie heilen soll; denn Leichen- blässe liegt auf ihrem Angesicht, und Krämpfe durch- zucken ihr Gebein; wie sollte sie Gesang und Saiten- spiel da mögen! Und es ist rührend, wie immer noch nicht die Sänger weichen wollen; alles Laub ist gelb geworden, jeder Windhauch löst mehr und mehr der dürren, verspäteten Blätter ab, und sie falleu langsam traurig zu den andern Leichen nieder; immer aber sitzen Jene noch auf den kahlen Zweigen, und singen unver- drossen fort, und hoffen, harren, klagen, und immer tiefer sinkt die Sonne, länger weilt nach jedem Tag die Nacht, und die kalten dunkeln Mächte greifen immer tiefer in das Leben ein. Fliegt nach ihren Städten, laßt euch haschen, singt im Käsig, sie streuen euch dafür euer Winterfutter. Nachdem wir viel Hof-
der Tiefe andere Gaben, als jene die der Himmel ſpendet; es mußte die Poeſie entfliehen, Alles mußte gegen die Induſtrie ſich wenden; von dem was früher geblüht, ſuchte man die Früchte itzt am Boden auf. So iſt denn unſere Zeit, nachdem es Abend vielmal und Morgen geworden, auch geworden, und Gott ſah, daß ſie gut war in ihrer Schlechtigkeit. Kraftlos nicht, aber unendlich betriebſam und verſtändig hat in ihr der Erdgeiſt zwiſchen Gold und Eiſen ſich getheilt; mit dem Stahle wühlt ſie in den eignen Eingeweiden nach dem Bezoar, der ſie heilen ſoll; denn Leichen- bläſſe liegt auf ihrem Angeſicht, und Krämpfe durch- zucken ihr Gebein; wie ſollte ſie Geſang und Saiten- ſpiel da mögen! Und es iſt rührend, wie immer noch nicht die Sänger weichen wollen; alles Laub iſt gelb geworden, jeder Windhauch löſt mehr und mehr der dürren, verſpäteten Blätter ab, und ſie falleu langſam traurig zu den andern Leichen nieder; immer aber ſitzen Jene noch auf den kahlen Zweigen, und ſingen unver- droſſen fort, und hoffen, harren, klagen, und immer tiefer ſinkt die Sonne, länger weilt nach jedem Tag die Nacht, und die kalten dunkeln Mächte greifen immer tiefer in das Leben ein. Fliegt nach ihren Städten, laßt euch haſchen, ſingt im Käſig, ſie ſtreuen euch dafür euer Winterfutter. Nachdem wir viel Hof-
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der Tiefe andere Gaben, als jene die der Himmel
ſpendet; es mußte die Poeſie entfliehen, Alles mußte
gegen die Induſtrie ſich wenden; von dem was
früher geblüht, ſuchte man die Früchte itzt am Boden
auf. So iſt denn unſere Zeit, nachdem es Abend vielmal
und Morgen geworden, auch geworden, und Gott ſah,
daß ſie gut war in ihrer Schlechtigkeit. Kraftlos nicht,
aber unendlich betriebſam und verſtändig hat in ihr
der Erdgeiſt zwiſchen Gold und Eiſen ſich getheilt;
mit dem Stahle wühlt ſie in den eignen Eingeweiden
nach dem Bezoar, der ſie heilen ſoll; denn Leichen-
bläſſe liegt auf ihrem Angeſicht, und Krämpfe durch-
zucken ihr Gebein; wie ſollte ſie Geſang und Saiten-
ſpiel da mögen! Und es iſt rührend, wie immer noch
nicht die Sänger weichen wollen; alles Laub iſt gelb
geworden, jeder Windhauch löſt mehr und mehr der
dürren, verſpäteten Blätter ab, und ſie falleu langſam
traurig zu den andern Leichen nieder; immer aber ſitzen
Jene noch auf den kahlen Zweigen, und ſingen unver-
droſſen fort, und hoffen, harren, klagen, und immer
tiefer ſinkt die Sonne, länger weilt nach jedem Tag
die Nacht, und die kalten dunkeln Mächte greifen
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Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/316>, abgerufen am 22.11.2024.
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