Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

in diesen Tagen, wo die Nation noch nicht unter
fortdauernden Kriegesplünderungen und Friedensdruck
verarmt, mit dem Wohlstand auch eine eigene selbst-
ständige Poesie erblühen: es war die Begeisterung der
Natur in dem Lande noch nicht erloschen, sie konnte die
teutschen Weine treiben; in der Begeisterung, die
erwärmend die Kunst anregt, mogte nichts Schlechteres
reifen. Während daher die Minnesänger in lyrischem
Enthusiasm die Liebe sangen und des Gemüthes
Sehnen, und leicht wie den Federball das leichte Wort
handhabten, und in zierlich schönen Bogen und reizend
gefälligen Formen hin und zurück, sinkend und steigend
durch die Lüfte trieben, sangen der Aventüre Meister
in größeren Gesängen die epische Kraft, die wie eine
Gottheit verborgen in tiefer Menschenbrust wohnt, und
That mit That, wie die Natur Welt mit Welt verkettet,
bis um den Menschen her sich das Leben wie eine
romantische Wildniß zugezogen hat. Und sie boten
dem allgemeinen Verein zuerst, was unmittelbar auf
ihrem Boden sich erzeugt, das Nibelungen Lied, jenes
große Gedicht, wahrscheinlich in naher Berührung
mit der nordischen Heldenmythe hervorgegangen, die
der Rormänner Züge bis nach Italien hinunter frühe
schon verbreitet hatten, und die gerade um diese Zeit,
im 12ten und 13ten Jahrhundert, Saemund und

in dieſen Tagen, wo die Nation noch nicht unter
fortdauernden Kriegesplünderungen und Friedensdruck
verarmt, mit dem Wohlſtand auch eine eigene ſelbſt-
ſtändige Poeſie erblühen: es war die Begeiſterung der
Natur in dem Lande noch nicht erloſchen, ſie konnte die
teutſchen Weine treiben; in der Begeiſterung, die
erwärmend die Kunſt anregt, mogte nichts Schlechteres
reifen. Während daher die Minneſänger in lyriſchem
Enthuſiasm die Liebe ſangen und des Gemüthes
Sehnen, und leicht wie den Federball das leichte Wort
handhabten, und in zierlich ſchönen Bogen und reizend
gefälligen Formen hin und zurück, ſinkend und ſteigend
durch die Lüfte trieben, ſangen der Aventüre Meiſter
in größeren Geſängen die epiſche Kraft, die wie eine
Gottheit verborgen in tiefer Menſchenbruſt wohnt, und
That mit That, wie die Natur Welt mit Welt verkettet,
bis um den Menſchen her ſich das Leben wie eine
romantiſche Wildniß zugezogen hat. Und ſie boten
dem allgemeinen Verein zuerſt, was unmittelbar auf
ihrem Boden ſich erzeugt, das Nibelungen Lied, jenes
große Gedicht, wahrſcheinlich in naher Berührung
mit der nordiſchen Heldenmythe hervorgegangen, die
der Rormänner Züge bis nach Italien hinunter frühe
ſchon verbreitet hatten, und die gerade um dieſe Zeit,
im 12ten und 13ten Jahrhundert, Saemund und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0310" n="292"/>
in die&#x017F;en Tagen, wo die Nation noch nicht unter<lb/>
fortdauernden Kriegesplünderungen und Friedensdruck<lb/>
verarmt, mit dem Wohl&#x017F;tand auch eine eigene &#x017F;elb&#x017F;t-<lb/>
&#x017F;tändige Poe&#x017F;ie erblühen: es war die Begei&#x017F;terung der<lb/>
Natur in dem Lande noch nicht erlo&#x017F;chen, &#x017F;ie konnte die<lb/>
teut&#x017F;chen Weine treiben; in der Begei&#x017F;terung, die<lb/>
erwärmend die Kun&#x017F;t anregt, mogte nichts Schlechteres<lb/>
reifen. Während daher die Minne&#x017F;änger in lyri&#x017F;chem<lb/>
Enthu&#x017F;iasm die Liebe &#x017F;angen und des Gemüthes<lb/>
Sehnen, und leicht wie den Federball das leichte Wort<lb/>
handhabten, und in zierlich &#x017F;chönen Bogen und reizend<lb/>
gefälligen Formen hin und zurück, &#x017F;inkend und &#x017F;teigend<lb/>
durch die Lüfte trieben, &#x017F;angen der Aventüre Mei&#x017F;ter<lb/>
in größeren Ge&#x017F;ängen die epi&#x017F;che Kraft, die wie eine<lb/>
Gottheit verborgen in tiefer Men&#x017F;chenbru&#x017F;t wohnt, und<lb/>
That mit That, wie die Natur Welt mit Welt verkettet,<lb/>
bis um den Men&#x017F;chen her &#x017F;ich das Leben wie eine<lb/>
romanti&#x017F;che Wildniß zugezogen hat. Und &#x017F;ie boten<lb/>
dem allgemeinen Verein zuer&#x017F;t, was unmittelbar auf<lb/>
ihrem Boden &#x017F;ich erzeugt, das Nibelungen Lied, jenes<lb/>
große Gedicht, wahr&#x017F;cheinlich in naher Berührung<lb/>
mit der nordi&#x017F;chen Heldenmythe hervorgegangen, die<lb/>
der Rormänner Züge bis nach Italien hinunter frühe<lb/>
&#x017F;chon verbreitet hatten, und die gerade um die&#x017F;e Zeit,<lb/>
im 12ten und 13ten Jahrhundert, Saemund und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[292/0310] in dieſen Tagen, wo die Nation noch nicht unter fortdauernden Kriegesplünderungen und Friedensdruck verarmt, mit dem Wohlſtand auch eine eigene ſelbſt- ſtändige Poeſie erblühen: es war die Begeiſterung der Natur in dem Lande noch nicht erloſchen, ſie konnte die teutſchen Weine treiben; in der Begeiſterung, die erwärmend die Kunſt anregt, mogte nichts Schlechteres reifen. Während daher die Minneſänger in lyriſchem Enthuſiasm die Liebe ſangen und des Gemüthes Sehnen, und leicht wie den Federball das leichte Wort handhabten, und in zierlich ſchönen Bogen und reizend gefälligen Formen hin und zurück, ſinkend und ſteigend durch die Lüfte trieben, ſangen der Aventüre Meiſter in größeren Geſängen die epiſche Kraft, die wie eine Gottheit verborgen in tiefer Menſchenbruſt wohnt, und That mit That, wie die Natur Welt mit Welt verkettet, bis um den Menſchen her ſich das Leben wie eine romantiſche Wildniß zugezogen hat. Und ſie boten dem allgemeinen Verein zuerſt, was unmittelbar auf ihrem Boden ſich erzeugt, das Nibelungen Lied, jenes große Gedicht, wahrſcheinlich in naher Berührung mit der nordiſchen Heldenmythe hervorgegangen, die der Rormänner Züge bis nach Italien hinunter frühe ſchon verbreitet hatten, und die gerade um dieſe Zeit, im 12ten und 13ten Jahrhundert, Saemund und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/310
Zitationshilfe: Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/310>, abgerufen am 24.11.2024.