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Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807.

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In dem gegenwärtigen Buch sind zwölf Sibyllen
aufgestellt, wie die Geschichtschreiber sie uns überliefert
haben: eine Persica, Lybica, Delphica, Cumeria,
Tiburtina u. s. w., und Jeder werden eine Reihe
Sprüche meist aus den Propheten des alten Testamentes
in den Mund gelegt. An Diese schließt die Königin
von Saba sich an, die besonders vom jüngsten Tage
weissagt. Die Idee eines jüngsten Tages, gegründet
auf die Annahme einer gleichen Perfectibilität des
Bösen wie des Guten, und der daraus folgenden
Nothwendigkeit der eintretenden Ueberwucht des
Lasters über das Gute durch das Eingreiffen einer
höheren richterlichen Gewalt abzuhelfen, ist eine der
Grundansichten der menschlichen Natur, die besonders
in der Entwickelung des Christenthums zu Tage getreten
ist. Wieder war es natürlich, da man Christus als
das Haupt aller Tugend und alles Guten anerkannte,
die sich dann ihm wie die Glieder eines Leibes zur
Bildung der Kirche anfügten, daß man auch gleicher-
weiße einen Antichrist anerkannte, dessen Leib alle
Lügengeister und alle Teufelsapostel angehörten, und
der eben am jüngsten Tage besiegt dem Guten erliegen
muß.

"Hierauf wird bald eine Aenderung und neu Regi-
ment, Fried und Einigkeit in der ganzen Christenheit

In dem gegenwärtigen Buch ſind zwölf Sibyllen
aufgeſtellt, wie die Geſchichtſchreiber ſie uns überliefert
haben: eine Perſica, Lybica, Delphica, Cumeria,
Tiburtina u. ſ. w., und Jeder werden eine Reihe
Sprüche meiſt aus den Propheten des alten Teſtamentes
in den Mund gelegt. An Dieſe ſchließt die Königin
von Saba ſich an, die beſonders vom jüngſten Tage
weiſſagt. Die Idee eines jüngſten Tages, gegründet
auf die Annahme einer gleichen Perfectibilität des
Böſen wie des Guten, und der daraus folgenden
Nothwendigkeit der eintretenden Ueberwucht des
Laſters über das Gute durch das Eingreiffen einer
höheren richterlichen Gewalt abzuhelfen, iſt eine der
Grundanſichten der menſchlichen Natur, die beſonders
in der Entwickelung des Chriſtenthums zu Tage getreten
iſt. Wieder war es natürlich, da man Chriſtus als
das Haupt aller Tugend und alles Guten anerkannte,
die ſich dann ihm wie die Glieder eines Leibes zur
Bildung der Kirche anfügten, daß man auch gleicher-
weiße einen Antichriſt anerkannte, deſſen Leib alle
Lügengeiſter und alle Teufelsapoſtel angehörten, und
der eben am jüngſten Tage beſiegt dem Guten erliegen
muß.

„Hierauf wird bald eine Aenderung und neu Regi-
ment, Fried und Einigkeit in der ganzen Chriſtenheit

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[240/0258] In dem gegenwärtigen Buch ſind zwölf Sibyllen aufgeſtellt, wie die Geſchichtſchreiber ſie uns überliefert haben: eine Perſica, Lybica, Delphica, Cumeria, Tiburtina u. ſ. w., und Jeder werden eine Reihe Sprüche meiſt aus den Propheten des alten Teſtamentes in den Mund gelegt. An Dieſe ſchließt die Königin von Saba ſich an, die beſonders vom jüngſten Tage weiſſagt. Die Idee eines jüngſten Tages, gegründet auf die Annahme einer gleichen Perfectibilität des Böſen wie des Guten, und der daraus folgenden Nothwendigkeit der eintretenden Ueberwucht des Laſters über das Gute durch das Eingreiffen einer höheren richterlichen Gewalt abzuhelfen, iſt eine der Grundanſichten der menſchlichen Natur, die beſonders in der Entwickelung des Chriſtenthums zu Tage getreten iſt. Wieder war es natürlich, da man Chriſtus als das Haupt aller Tugend und alles Guten anerkannte, die ſich dann ihm wie die Glieder eines Leibes zur Bildung der Kirche anfügten, daß man auch gleicher- weiße einen Antichriſt anerkannte, deſſen Leib alle Lügengeiſter und alle Teufelsapoſtel angehörten, und der eben am jüngſten Tage beſiegt dem Guten erliegen muß. „Hierauf wird bald eine Aenderung und neu Regi- ment, Fried und Einigkeit in der ganzen Chriſtenheit

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Zitationshilfe: Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/258>, abgerufen am 24.11.2024.