Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

Cryptogamisten der Oberwelt. Von dem indischen
Gebürge Hemakuta, das zwischen den Meeren des
Aufgangs und Niedergangs im Glanze der Morgen-
und Abendsonne den goldnen Gürtel bildet, kamen sie
herüber, gleich Vögeln eines fremden Himmels nach
Europa, und herrschten durch den Aether; großer Kräfte
und vielfachen Zaubers Meister; irdische Gestirne, die
im Lufthimmel leben; der Erde Nervengeister, die
durch die gewaltige Masse auf- und niederschweben,
und, Regenten der Naturorgane, sie nach höheren
Zwecken lenken und regieren; denen die Materie nicht
undurchdringlich ist, deren Fuß die Schwere nicht
fesseln mag, und die auf ihrer Bahn die Finsterniß nicht
irrt. Die colossale Phantasie der Zeit hatte sie wie
ein warmer Sommerhauch den Frühling hervorgelockt:
da aber wendeten die Zeiten sich in sich selber, der
Verstand gieng auf und trieb sie in Stein und Erd
zurück, und in den Körpern gebannt schlafen die Ge-
müther wieder, und kalt, aber hell und leuchtend rollt
die Materie durch den Raum, weil der Geist in ihr
erwacht, und der Gefühle Leben allein im Innersten
kocht und treibt. Auf den Mai der Weltgeschichte ist
ein heller, kalter Wintertag gefolgt; die Wasser liegen
in magnetischer Erstarrung an den Bergen nieder; das
Leben ist unter die Erde gegangen, dunkel glimmt es

Cryptogamiſten der Oberwelt. Von dem indiſchen
Gebürge Hemakuta, das zwiſchen den Meeren des
Aufgangs und Niedergangs im Glanze der Morgen-
und Abendſonne den goldnen Gürtel bildet, kamen ſie
herüber, gleich Vögeln eines fremden Himmels nach
Europa, und herrſchten durch den Aether; großer Kräfte
und vielfachen Zaubers Meiſter; irdiſche Geſtirne, die
im Lufthimmel leben; der Erde Nervengeiſter, die
durch die gewaltige Maſſe auf- und niederſchweben,
und, Regenten der Naturorgane, ſie nach höheren
Zwecken lenken und regieren; denen die Materie nicht
undurchdringlich iſt, deren Fuß die Schwere nicht
feſſeln mag, und die auf ihrer Bahn die Finſterniß nicht
irrt. Die coloſſale Phantaſie der Zeit hatte ſie wie
ein warmer Sommerhauch den Frühling hervorgelockt:
da aber wendeten die Zeiten ſich in ſich ſelber, der
Verſtand gieng auf und trieb ſie in Stein und Erd
zurück, und in den Körpern gebannt ſchlafen die Ge-
müther wieder, und kalt, aber hell und leuchtend rollt
die Materie durch den Raum, weil der Geiſt in ihr
erwacht, und der Gefühle Leben allein im Innerſten
kocht und treibt. Auf den Mai der Weltgeſchichte iſt
ein heller, kalter Wintertag gefolgt; die Waſſer liegen
in magnetiſcher Erſtarrung an den Bergen nieder; das
Leben iſt unter die Erde gegangen, dunkel glimmt es

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0253" n="235"/>
Cryptogami&#x017F;ten der Oberwelt. Von dem indi&#x017F;chen<lb/>
Gebürge Hemakuta, das zwi&#x017F;chen den Meeren des<lb/>
Aufgangs und Niedergangs im Glanze der Morgen-<lb/>
und Abend&#x017F;onne den goldnen Gürtel bildet, kamen &#x017F;ie<lb/>
herüber, gleich Vögeln eines fremden Himmels nach<lb/>
Europa, und herr&#x017F;chten durch den Aether; großer Kräfte<lb/>
und vielfachen Zaubers Mei&#x017F;ter; irdi&#x017F;che Ge&#x017F;tirne, die<lb/>
im Lufthimmel leben; der Erde Nervengei&#x017F;ter, die<lb/>
durch die gewaltige Ma&#x017F;&#x017F;e auf- und nieder&#x017F;chweben,<lb/>
und, Regenten der Naturorgane, &#x017F;ie nach höheren<lb/>
Zwecken lenken und regieren; denen die Materie nicht<lb/>
undurchdringlich i&#x017F;t, deren Fuß die Schwere nicht<lb/>
fe&#x017F;&#x017F;eln mag, und die auf ihrer Bahn die Fin&#x017F;terniß nicht<lb/>
irrt. Die colo&#x017F;&#x017F;ale Phanta&#x017F;ie der Zeit hatte &#x017F;ie wie<lb/>
ein warmer Sommerhauch den Frühling hervorgelockt:<lb/>
da aber wendeten die Zeiten &#x017F;ich in &#x017F;ich &#x017F;elber, der<lb/>
Ver&#x017F;tand gieng auf und trieb &#x017F;ie in Stein und Erd<lb/>
zurück, und in den Körpern gebannt &#x017F;chlafen die Ge-<lb/>
müther wieder, und kalt, aber hell und leuchtend rollt<lb/>
die Materie durch den Raum, weil der Gei&#x017F;t in ihr<lb/>
erwacht, und der Gefühle Leben allein im Inner&#x017F;ten<lb/>
kocht und treibt. Auf den Mai der Weltge&#x017F;chichte i&#x017F;t<lb/>
ein heller, kalter Wintertag gefolgt; die Wa&#x017F;&#x017F;er liegen<lb/>
in magneti&#x017F;cher Er&#x017F;tarrung an den Bergen nieder; das<lb/>
Leben i&#x017F;t unter die Erde gegangen, dunkel glimmt es<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[235/0253] Cryptogamiſten der Oberwelt. Von dem indiſchen Gebürge Hemakuta, das zwiſchen den Meeren des Aufgangs und Niedergangs im Glanze der Morgen- und Abendſonne den goldnen Gürtel bildet, kamen ſie herüber, gleich Vögeln eines fremden Himmels nach Europa, und herrſchten durch den Aether; großer Kräfte und vielfachen Zaubers Meiſter; irdiſche Geſtirne, die im Lufthimmel leben; der Erde Nervengeiſter, die durch die gewaltige Maſſe auf- und niederſchweben, und, Regenten der Naturorgane, ſie nach höheren Zwecken lenken und regieren; denen die Materie nicht undurchdringlich iſt, deren Fuß die Schwere nicht feſſeln mag, und die auf ihrer Bahn die Finſterniß nicht irrt. Die coloſſale Phantaſie der Zeit hatte ſie wie ein warmer Sommerhauch den Frühling hervorgelockt: da aber wendeten die Zeiten ſich in ſich ſelber, der Verſtand gieng auf und trieb ſie in Stein und Erd zurück, und in den Körpern gebannt ſchlafen die Ge- müther wieder, und kalt, aber hell und leuchtend rollt die Materie durch den Raum, weil der Geiſt in ihr erwacht, und der Gefühle Leben allein im Innerſten kocht und treibt. Auf den Mai der Weltgeſchichte iſt ein heller, kalter Wintertag gefolgt; die Waſſer liegen in magnetiſcher Erſtarrung an den Bergen nieder; das Leben iſt unter die Erde gegangen, dunkel glimmt es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/253
Zitationshilfe: Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/253>, abgerufen am 24.11.2024.