Für das Alter des Gedichtes zeugt die Erscheinung, daß nicht bloß die Tradition, auf die es sich gegründet, verlohren ist, sondern auch die Tradition seiner Grün- dung selbst. Die Geschichte der Literatur weiß nichts über seine Entstehung zu erzählen; so viel scheint sich zu ergeben, daß es ein ursprünglich teutsches Werk ist. Der Zusatz auf dem Titel: aus dem Französischen über- setzt, widerspricht dem keineswegs, denn die französische Literatur kennt das angebliche Original nicht, und keine Bibliothek, die ihren eignen Reichthum kennt, hat bisher etwas dergleichen aufgewiesen. Und doch ist die- ses gänzliche Versiegen aller Geschichte wunderbar, wenn man bedenkt, wie Siegfried, der Held der neuern Zeit, in der Liebe und der Anschauung des ganzen Mittelalters lebte, und gewissermaßen eines der großen Organe war, in denen von Zeit zu Zeit wiederkehrend, die Poesie immer von neuem sich verkörpert, und dadurch in fortlaufender Palingenesie sich gegen den Tod und den Untergang bewahrt. Wie ihn daher die Niebelun- gen als ihren Helden feiern, so hat das Heldenbuch, in Opposition mit dem ganzen burgundischen Helden- kreise ihn eben auch zum kräftigen Gegensatz seines Helden, des Dieterich von Bern, gewählt, und das Ge- dicht verwendet viele Motive, bis Dieser sich nur zum Kampfe mit dem furchtbaren Gegner entschließt, und ein
Für das Alter des Gedichtes zeugt die Erſcheinung, daß nicht bloß die Tradition, auf die es ſich gegründet, verlohren iſt, ſondern auch die Tradition ſeiner Grün- dung ſelbſt. Die Geſchichte der Literatur weiß nichts über ſeine Entſtehung zu erzählen; ſo viel ſcheint ſich zu ergeben, daß es ein urſprünglich teutſches Werk iſt. Der Zuſatz auf dem Titel: aus dem Franzöſiſchen über- ſetzt, widerſpricht dem keineswegs, denn die franzöſiſche Literatur kennt das angebliche Original nicht, und keine Bibliothek, die ihren eignen Reichthum kennt, hat bisher etwas dergleichen aufgewieſen. Und doch iſt die- ſes gänzliche Verſiegen aller Geſchichte wunderbar, wenn man bedenkt, wie Siegfried, der Held der neuern Zeit, in der Liebe und der Anſchauung des ganzen Mittelalters lebte, und gewiſſermaßen eines der großen Organe war, in denen von Zeit zu Zeit wiederkehrend, die Poeſie immer von neuem ſich verkörpert, und dadurch in fortlaufender Palingeneſie ſich gegen den Tod und den Untergang bewahrt. Wie ihn daher die Niebelun- gen als ihren Helden feiern, ſo hat das Heldenbuch, in Oppoſition mit dem ganzen burgundiſchen Helden- kreiſe ihn eben auch zum kräftigen Gegenſatz ſeines Helden, des Dieterich von Bern, gewählt, und das Ge- dicht verwendet viele Motive, bis Dieſer ſich nur zum Kampfe mit dem furchtbaren Gegner entſchließt, und ein
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Für das Alter des Gedichtes zeugt die Erſcheinung,
daß nicht bloß die Tradition, auf die es ſich gegründet,
verlohren iſt, ſondern auch die Tradition ſeiner Grün-
dung ſelbſt. Die Geſchichte der Literatur weiß nichts
über ſeine Entſtehung zu erzählen; ſo viel ſcheint ſich zu
ergeben, daß es ein urſprünglich teutſches Werk iſt.
Der Zuſatz auf dem Titel: aus dem Franzöſiſchen über-
ſetzt, widerſpricht dem keineswegs, denn die franzöſiſche
Literatur kennt das angebliche Original nicht, und keine
Bibliothek, die ihren eignen Reichthum kennt, hat
bisher etwas dergleichen aufgewieſen. Und doch iſt die-
ſes gänzliche Verſiegen aller Geſchichte wunderbar,
wenn man bedenkt, wie Siegfried, der Held der neuern
Zeit, in der Liebe und der Anſchauung des ganzen
Mittelalters lebte, und gewiſſermaßen eines der großen
Organe war, in denen von Zeit zu Zeit wiederkehrend,
die Poeſie immer von neuem ſich verkörpert, und dadurch
in fortlaufender Palingeneſie ſich gegen den Tod und
den Untergang bewahrt. Wie ihn daher die Niebelun-
gen als ihren Helden feiern, ſo hat das Heldenbuch,
in Oppoſition mit dem ganzen burgundiſchen Helden-
kreiſe ihn eben auch zum kräftigen Gegenſatz ſeines
Helden, des Dieterich von Bern, gewählt, und das Ge-
dicht verwendet viele Motive, bis Dieſer ſich nur zum
Kampfe mit dem furchtbaren Gegner entſchließt, und ein
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Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/114>, abgerufen am 24.11.2024.
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