Glümer, Claire von: Reich zu reich und arm zu arm. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 19. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 255–326. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Hauswesen in Ordnung zu halten, wie bisher das des Stiefvaters. Die Gewißheit, zu dem, was ihr künftiges Leben von ihr verlangte, tüchtig zu sein, gab ihr sogar eine gewisse Freudigkeit. Der Herr Pfarrer hat Recht, sagte sie zu sich selbst; es kommt nur darauf an, daß man mit gutem Willen auf sich nimmt, was Gott und die Heiligen verlangen, dann haben Zweifel und sündhafte Wünsche von selbst ein Ende. Wenn das nur der Francois einsehen wollte. Sie dachte sich aus, wie sie es anfangen könnte, ihn zur Vernunft zu bringen, als sie darüber einschlief und träumte, sie ginge in strömendem Regen mit dem Henriot den Waldweg von Jurancon zur Obermühle hinauf. Der Bach war angeschwollen, der Steg zitterte. Henriot bot ihr die Hand, um sie hinüberzuführen, aber nach den ersten Schritten brachen die morschen Planken ein. Claudine fiel wie in bodenlose Tiefe, bis Francois' Stimme ihren Namen rief und sie mit jähem Schreck erwachte. Als sie die Augen aufschlug, stand er wirklich vor ihr. Verzeih, daß ich dich störe, sagte er; aber fortgehen, ohne dich noch ein einziges, letztes Mal gesehen zu haben, kann ich nicht. Ein einziges, letztes Mal! wiederholte sie; was soll das heißen? Daß ich fort will, Claudine, in die weite Welt . . . Hauswesen in Ordnung zu halten, wie bisher das des Stiefvaters. Die Gewißheit, zu dem, was ihr künftiges Leben von ihr verlangte, tüchtig zu sein, gab ihr sogar eine gewisse Freudigkeit. Der Herr Pfarrer hat Recht, sagte sie zu sich selbst; es kommt nur darauf an, daß man mit gutem Willen auf sich nimmt, was Gott und die Heiligen verlangen, dann haben Zweifel und sündhafte Wünsche von selbst ein Ende. Wenn das nur der François einsehen wollte. Sie dachte sich aus, wie sie es anfangen könnte, ihn zur Vernunft zu bringen, als sie darüber einschlief und träumte, sie ginge in strömendem Regen mit dem Henriot den Waldweg von Jurançon zur Obermühle hinauf. Der Bach war angeschwollen, der Steg zitterte. Henriot bot ihr die Hand, um sie hinüberzuführen, aber nach den ersten Schritten brachen die morschen Planken ein. Claudine fiel wie in bodenlose Tiefe, bis François' Stimme ihren Namen rief und sie mit jähem Schreck erwachte. Als sie die Augen aufschlug, stand er wirklich vor ihr. Verzeih, daß ich dich störe, sagte er; aber fortgehen, ohne dich noch ein einziges, letztes Mal gesehen zu haben, kann ich nicht. Ein einziges, letztes Mal! wiederholte sie; was soll das heißen? Daß ich fort will, Claudine, in die weite Welt . . . <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0043"/> Hauswesen in Ordnung zu halten, wie bisher das des Stiefvaters. Die Gewißheit, zu dem, was ihr künftiges Leben von ihr verlangte, tüchtig zu sein, gab ihr sogar eine gewisse Freudigkeit.</p><lb/> <p>Der Herr Pfarrer hat Recht, sagte sie zu sich selbst; es kommt nur darauf an, daß man mit gutem Willen auf sich nimmt, was Gott und die Heiligen verlangen, dann haben Zweifel und sündhafte Wünsche von selbst ein Ende. Wenn das nur der François einsehen wollte.</p><lb/> <p>Sie dachte sich aus, wie sie es anfangen könnte, ihn zur Vernunft zu bringen, als sie darüber einschlief und träumte, sie ginge in strömendem Regen mit dem Henriot den Waldweg von Jurançon zur Obermühle hinauf. Der Bach war angeschwollen, der Steg zitterte. Henriot bot ihr die Hand, um sie hinüberzuführen, aber nach den ersten Schritten brachen die morschen Planken ein. Claudine fiel wie in bodenlose Tiefe, bis François' Stimme ihren Namen rief und sie mit jähem Schreck erwachte.</p><lb/> <p>Als sie die Augen aufschlug, stand er wirklich vor ihr.</p><lb/> <p>Verzeih, daß ich dich störe, sagte er; aber fortgehen, ohne dich noch ein einziges, letztes Mal gesehen zu haben, kann ich nicht.</p><lb/> <p>Ein einziges, letztes Mal! wiederholte sie; was soll das heißen?</p><lb/> <p>Daß ich fort will, Claudine, in die weite Welt . . .<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0043]
Hauswesen in Ordnung zu halten, wie bisher das des Stiefvaters. Die Gewißheit, zu dem, was ihr künftiges Leben von ihr verlangte, tüchtig zu sein, gab ihr sogar eine gewisse Freudigkeit.
Der Herr Pfarrer hat Recht, sagte sie zu sich selbst; es kommt nur darauf an, daß man mit gutem Willen auf sich nimmt, was Gott und die Heiligen verlangen, dann haben Zweifel und sündhafte Wünsche von selbst ein Ende. Wenn das nur der François einsehen wollte.
Sie dachte sich aus, wie sie es anfangen könnte, ihn zur Vernunft zu bringen, als sie darüber einschlief und träumte, sie ginge in strömendem Regen mit dem Henriot den Waldweg von Jurançon zur Obermühle hinauf. Der Bach war angeschwollen, der Steg zitterte. Henriot bot ihr die Hand, um sie hinüberzuführen, aber nach den ersten Schritten brachen die morschen Planken ein. Claudine fiel wie in bodenlose Tiefe, bis François' Stimme ihren Namen rief und sie mit jähem Schreck erwachte.
Als sie die Augen aufschlug, stand er wirklich vor ihr.
Verzeih, daß ich dich störe, sagte er; aber fortgehen, ohne dich noch ein einziges, letztes Mal gesehen zu haben, kann ich nicht.
Ein einziges, letztes Mal! wiederholte sie; was soll das heißen?
Daß ich fort will, Claudine, in die weite Welt . . .
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Zitationshilfe: | Glümer, Claire von: Reich zu reich und arm zu arm. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 19. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 255–326. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gluemer_arm_1910/43>, abgerufen am 23.07.2024. |