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Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1791.

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1. Buch. 5. Tit. §. 115.
aus Mutterleibe heraus ist, sterben sollte 82). Kennzei-
chen des Lebens bey neugebohrnen Kindern sind nun
Stimme, Puls und gewisse Handlungen, die das geborne
Kind ausübt. Hierher gehört öffnen und bewegen der
Augen, und freywillige Bewegung der Glieder 83). Zwar
wird von einigen Aerzten vorgegeben: daß das Bewegen
der Glieder auch als Zuckung bey einem in der Geburt
sterbenden, und gleich darauf ans Tageslicht tretenden
Kinde statt haben könne 84); allein wenn gleich diese
Meinung als menschenfreundlich in so fern alle Achtung
verdient, als sie nur dahin zielt, bey der Untersuchung
eines angegebenen Kindermords die desselben verdächtige
Mutter mit der Tortur zu verschonen, so verdient sie doch
hier, wo blos von der Erbfähigkeit des Kindes die Re-
de ist, keinen Beyfall, indem in einem solchem Falle im Zwei-
fel immer eher anzunehmen ist, daß die nach der Geburt ge-
sehene Bewegungen des Kindes freywillig, als daß sie con-
vulsivisch gewesen, mithin das Kind allerdings lebendig ge-
bohren worden sey. Uebrigens darf hier nicht unbemerkt
bleiben, daß über die eigentlichen Lebenskennzeichen unter
den Secten der alten römischen Juristen ein Streit gewe-
sen 85). Die Proculianer nahmen an, daß ein Kind
für todgebohren zu halten sey, wenn es nach der Geburt
nicht geschrien hätte. Die Sabinianer behaupteten hinge-
gen, daß ein lebendiges Kind auch ohne Stimme könne ge-
bohren werden, wenn andere Zeichen des Lebens vorhan-

den
82) L. 3. Cod. de postum. hered. instit. vel exhered.
83) Campers Abhandlung von den Kennzeichen des Lebens
und des Todes bey neugebornen Kindern.
84) eschenbach Medecin. legal. pag. 194. roederer de Suf-
focatis.
85) Gotfr. mascovius de Sectis Sabinianorum et Proculianor.
in iure civili. Cap. IX. §. 16. pag. 202. sq.

1. Buch. 5. Tit. §. 115.
aus Mutterleibe heraus iſt, ſterben ſollte 82). Kennzei-
chen des Lebens bey neugebohrnen Kindern ſind nun
Stimme, Puls und gewiſſe Handlungen, die das geborne
Kind ausuͤbt. Hierher gehoͤrt oͤffnen und bewegen der
Augen, und freywillige Bewegung der Glieder 83). Zwar
wird von einigen Aerzten vorgegeben: daß das Bewegen
der Glieder auch als Zuckung bey einem in der Geburt
ſterbenden, und gleich darauf ans Tageslicht tretenden
Kinde ſtatt haben koͤnne 84); allein wenn gleich dieſe
Meinung als menſchenfreundlich in ſo fern alle Achtung
verdient, als ſie nur dahin zielt, bey der Unterſuchung
eines angegebenen Kindermords die deſſelben verdaͤchtige
Mutter mit der Tortur zu verſchonen, ſo verdient ſie doch
hier, wo blos von der Erbfaͤhigkeit des Kindes die Re-
de iſt, keinen Beyfall, indem in einem ſolchem Falle im Zwei-
fel immer eher anzunehmen iſt, daß die nach der Geburt ge-
ſehene Bewegungen des Kindes freywillig, als daß ſie con-
vulſiviſch geweſen, mithin das Kind allerdings lebendig ge-
bohren worden ſey. Uebrigens darf hier nicht unbemerkt
bleiben, daß uͤber die eigentlichen Lebenskennzeichen unter
den Secten der alten roͤmiſchen Juriſten ein Streit gewe-
ſen 85). Die Proculianer nahmen an, daß ein Kind
fuͤr todgebohren zu halten ſey, wenn es nach der Geburt
nicht geſchrien haͤtte. Die Sabinianer behaupteten hinge-
gen, daß ein lebendiges Kind auch ohne Stimme koͤnne ge-
bohren werden, wenn andere Zeichen des Lebens vorhan-

den
82) L. 3. Cod. de poſtum. hered. inſtit. vel exhered.
83) Campers Abhandlung von den Kennzeichen des Lebens
und des Todes bey neugebornen Kindern.
84) eschenbach Medecin. legal. pag. 194. roederer de Suf-
focatis.
85) Gotfr. mascovius de Sectis Sabinianorum et Proculianor.
in iure civili. Cap. IX. §. 16. pag. 202. ſq.
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[72/0086] 1. Buch. 5. Tit. §. 115. aus Mutterleibe heraus iſt, ſterben ſollte 82). Kennzei- chen des Lebens bey neugebohrnen Kindern ſind nun Stimme, Puls und gewiſſe Handlungen, die das geborne Kind ausuͤbt. Hierher gehoͤrt oͤffnen und bewegen der Augen, und freywillige Bewegung der Glieder 83). Zwar wird von einigen Aerzten vorgegeben: daß das Bewegen der Glieder auch als Zuckung bey einem in der Geburt ſterbenden, und gleich darauf ans Tageslicht tretenden Kinde ſtatt haben koͤnne 84); allein wenn gleich dieſe Meinung als menſchenfreundlich in ſo fern alle Achtung verdient, als ſie nur dahin zielt, bey der Unterſuchung eines angegebenen Kindermords die deſſelben verdaͤchtige Mutter mit der Tortur zu verſchonen, ſo verdient ſie doch hier, wo blos von der Erbfaͤhigkeit des Kindes die Re- de iſt, keinen Beyfall, indem in einem ſolchem Falle im Zwei- fel immer eher anzunehmen iſt, daß die nach der Geburt ge- ſehene Bewegungen des Kindes freywillig, als daß ſie con- vulſiviſch geweſen, mithin das Kind allerdings lebendig ge- bohren worden ſey. Uebrigens darf hier nicht unbemerkt bleiben, daß uͤber die eigentlichen Lebenskennzeichen unter den Secten der alten roͤmiſchen Juriſten ein Streit gewe- ſen 85). Die Proculianer nahmen an, daß ein Kind fuͤr todgebohren zu halten ſey, wenn es nach der Geburt nicht geſchrien haͤtte. Die Sabinianer behaupteten hinge- gen, daß ein lebendiges Kind auch ohne Stimme koͤnne ge- bohren werden, wenn andere Zeichen des Lebens vorhan- den 82) L. 3. Cod. de poſtum. hered. inſtit. vel exhered. 83) Campers Abhandlung von den Kennzeichen des Lebens und des Todes bey neugebornen Kindern. 84) eschenbach Medecin. legal. pag. 194. roederer de Suf- focatis. 85) Gotfr. mascovius de Sectis Sabinianorum et Proculianor. in iure civili. Cap. IX. §. 16. pag. 202. ſq.

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Zitationshilfe: Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1791, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten02_1791/86>, abgerufen am 27.11.2024.