Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

de Iustitia et Iure.
Umstände Rücksicht nehmen muste, um ihren Umpfang
bestimmen zu können. Auch heissen sie iura naturalia,
obligationes naturales;
Rechte nehmlich, denen kein
römisches Gesetz, sondern allein das natürliche Recht
die Consistenz und Form gegeben hat, und die, wenn
sie durch die Gesetze nicht aufgehoben oder entkräftet
waren, auch im Römischen Staat ihre Eigenschaften
beybehalten haben 11). Jeder Mensch ist derselben fä-
hig, er sey in der Sclaverey oder Freyheit: jene aber
setzen gewisse persönliche Verhältnisse bey ihren Subje-
cten voraus, und nicht alle Menschen haben die Recepti-
vität dazu."

Die Anwendung auf obige Gesetzstellen ist nun
folgende: Der Ususfructus und Usus, so heißt es wei-
ter 12), um den Modestin zu erklären, hatten ihre
Form durch die Gesetze erhalten, waren daher Rechte
in der eigentlichen Bedeutung, und bestanden also einzig
und allein in iure. Die Habitation hingegen war kein
solches Geschöpf der Gesetze, nicht durch die Gesetze
anerkannt und in eine bestimmte Form gebracht, sondern
ein Resultat von Verträgen und letzten Willen. Sie
selbst konnte zwar ein Gegenstand eines Rechts seyn,
aber war selbst kein Recht, nach dem Sinn und der
Sprache des Rechtsgelehrten. Oder sie war vielmehr
ein natürliches und nur kein gesetzliches Recht,
und bestand also, wie Modestin sagt, mehr in facto
als iure. Die ältern Gesetze hatten sich ihrer gar nicht
angenommen. Daher entstanden die mancherley Mei-
nungen unter den Röm. Rechtsgelehrten über das We-
sen derselben, weil die Gesetze davon ganz stille schwei-
gen, und sie aus den vorliegenden Verträgen und letz-

ten
11) L. 8 D. de cap. minut.
12) S. Gmelin a. a. O. §. 59. S. 93. folg.

de Iuſtitia et Iure.
Umſtaͤnde Ruͤckſicht nehmen muſte, um ihren Umpfang
beſtimmen zu koͤnnen. Auch heiſſen ſie iura naturalia,
obligationes naturales;
Rechte nehmlich, denen kein
roͤmiſches Geſetz, ſondern allein das natuͤrliche Recht
die Conſiſtenz und Form gegeben hat, und die, wenn
ſie durch die Geſetze nicht aufgehoben oder entkraͤftet
waren, auch im Roͤmiſchen Staat ihre Eigenſchaften
beybehalten haben 11). Jeder Menſch iſt derſelben faͤ-
hig, er ſey in der Sclaverey oder Freyheit: jene aber
ſetzen gewiſſe perſoͤnliche Verhaͤltniſſe bey ihren Subje-
cten voraus, und nicht alle Menſchen haben die Recepti-
vitaͤt dazu.„

Die Anwendung auf obige Geſetzſtellen iſt nun
folgende: Der Uſusfructus und Uſus, ſo heißt es wei-
ter 12), um den Modeſtin zu erklaͤren, hatten ihre
Form durch die Geſetze erhalten, waren daher Rechte
in der eigentlichen Bedeutung, und beſtanden alſo einzig
und allein in iure. Die Habitation hingegen war kein
ſolches Geſchoͤpf der Geſetze, nicht durch die Geſetze
anerkannt und in eine beſtimmte Form gebracht, ſondern
ein Reſultat von Vertraͤgen und letzten Willen. Sie
ſelbſt konnte zwar ein Gegenſtand eines Rechts ſeyn,
aber war ſelbſt kein Recht, nach dem Sinn und der
Sprache des Rechtsgelehrten. Oder ſie war vielmehr
ein natuͤrliches und nur kein geſetzliches Recht,
und beſtand alſo, wie Modeſtin ſagt, mehr in facto
als iure. Die aͤltern Geſetze hatten ſich ihrer gar nicht
angenommen. Daher entſtanden die mancherley Mei-
nungen unter den Roͤm. Rechtsgelehrten uͤber das We-
ſen derſelben, weil die Geſetze davon ganz ſtille ſchwei-
gen, und ſie aus den vorliegenden Vertraͤgen und letz-

ten
11) L. 8 D. de cap. minut.
12) S. Gmelin a. a. O. §. 59. S. 93. folg.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0033" n="13"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">de Iu&#x017F;titia et Iure.</hi></fw><lb/>
Um&#x017F;ta&#x0364;nde Ru&#x0364;ck&#x017F;icht nehmen mu&#x017F;te, um ihren Umpfang<lb/>
be&#x017F;timmen zu ko&#x0364;nnen. Auch hei&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie <hi rendition="#aq">iura naturalia,<lb/>
obligationes naturales;</hi> Rechte nehmlich, denen kein<lb/>
ro&#x0364;mi&#x017F;ches Ge&#x017F;etz, &#x017F;ondern allein das natu&#x0364;rliche Recht<lb/>
die Con&#x017F;i&#x017F;tenz und Form gegeben hat, und die, wenn<lb/>
&#x017F;ie durch die Ge&#x017F;etze nicht aufgehoben oder entkra&#x0364;ftet<lb/>
waren, auch im Ro&#x0364;mi&#x017F;chen Staat ihre Eigen&#x017F;chaften<lb/>
beybehalten haben <note place="foot" n="11)"><hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">L. 8 D. de cap. minut.</hi></hi></note>. Jeder Men&#x017F;ch i&#x017F;t der&#x017F;elben fa&#x0364;-<lb/>
hig, er &#x017F;ey in der Sclaverey oder Freyheit: jene aber<lb/>
&#x017F;etzen gewi&#x017F;&#x017F;e per&#x017F;o&#x0364;nliche Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e bey ihren Subje-<lb/>
cten voraus, und nicht alle Men&#x017F;chen haben die Recepti-<lb/>
vita&#x0364;t dazu.&#x201E;</p><lb/>
            <p>Die Anwendung auf obige Ge&#x017F;etz&#x017F;tellen i&#x017F;t nun<lb/>
folgende: Der <hi rendition="#aq">U&#x017F;usfructus</hi> und <hi rendition="#aq">U&#x017F;us,</hi> &#x017F;o heißt es wei-<lb/>
ter <note place="foot" n="12)">S. <hi rendition="#fr">Gmelin</hi> a. a. O. §. 59. S. 93. folg.</note>, um den <hi rendition="#fr">Mode&#x017F;tin</hi> zu erkla&#x0364;ren, hatten ihre<lb/>
Form durch die Ge&#x017F;etze erhalten, waren daher Rechte<lb/>
in der eigentlichen Bedeutung, und be&#x017F;tanden al&#x017F;o einzig<lb/>
und allein <hi rendition="#aq">in iure.</hi> Die Habitation hingegen war kein<lb/>
&#x017F;olches Ge&#x017F;cho&#x0364;pf der Ge&#x017F;etze, nicht durch die Ge&#x017F;etze<lb/>
anerkannt und in eine be&#x017F;timmte Form gebracht, &#x017F;ondern<lb/>
ein Re&#x017F;ultat von Vertra&#x0364;gen und letzten Willen. Sie<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t konnte zwar ein Gegen&#x017F;tand eines Rechts &#x017F;eyn,<lb/>
aber war &#x017F;elb&#x017F;t kein Recht, nach dem Sinn und der<lb/>
Sprache des Rechtsgelehrten. Oder &#x017F;ie war vielmehr<lb/>
ein <hi rendition="#g">natu&#x0364;rliches</hi> und nur kein <hi rendition="#g">ge&#x017F;etzliches</hi> Recht,<lb/>
und be&#x017F;tand al&#x017F;o, wie <hi rendition="#fr">Mode&#x017F;tin</hi> &#x017F;agt, mehr <hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">in facto</hi></hi><lb/>
als <hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">iure.</hi></hi> Die a&#x0364;ltern Ge&#x017F;etze hatten &#x017F;ich ihrer gar nicht<lb/>
angenommen. Daher ent&#x017F;tanden die mancherley Mei-<lb/>
nungen unter den Ro&#x0364;m. Rechtsgelehrten u&#x0364;ber das We-<lb/>
&#x017F;en der&#x017F;elben, weil die Ge&#x017F;etze davon ganz &#x017F;tille &#x017F;chwei-<lb/>
gen, und &#x017F;ie aus den vorliegenden Vertra&#x0364;gen und letz-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ten</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[13/0033] de Iuſtitia et Iure. Umſtaͤnde Ruͤckſicht nehmen muſte, um ihren Umpfang beſtimmen zu koͤnnen. Auch heiſſen ſie iura naturalia, obligationes naturales; Rechte nehmlich, denen kein roͤmiſches Geſetz, ſondern allein das natuͤrliche Recht die Conſiſtenz und Form gegeben hat, und die, wenn ſie durch die Geſetze nicht aufgehoben oder entkraͤftet waren, auch im Roͤmiſchen Staat ihre Eigenſchaften beybehalten haben 11). Jeder Menſch iſt derſelben faͤ- hig, er ſey in der Sclaverey oder Freyheit: jene aber ſetzen gewiſſe perſoͤnliche Verhaͤltniſſe bey ihren Subje- cten voraus, und nicht alle Menſchen haben die Recepti- vitaͤt dazu.„ Die Anwendung auf obige Geſetzſtellen iſt nun folgende: Der Uſusfructus und Uſus, ſo heißt es wei- ter 12), um den Modeſtin zu erklaͤren, hatten ihre Form durch die Geſetze erhalten, waren daher Rechte in der eigentlichen Bedeutung, und beſtanden alſo einzig und allein in iure. Die Habitation hingegen war kein ſolches Geſchoͤpf der Geſetze, nicht durch die Geſetze anerkannt und in eine beſtimmte Form gebracht, ſondern ein Reſultat von Vertraͤgen und letzten Willen. Sie ſelbſt konnte zwar ein Gegenſtand eines Rechts ſeyn, aber war ſelbſt kein Recht, nach dem Sinn und der Sprache des Rechtsgelehrten. Oder ſie war vielmehr ein natuͤrliches und nur kein geſetzliches Recht, und beſtand alſo, wie Modeſtin ſagt, mehr in facto als iure. Die aͤltern Geſetze hatten ſich ihrer gar nicht angenommen. Daher entſtanden die mancherley Mei- nungen unter den Roͤm. Rechtsgelehrten uͤber das We- ſen derſelben, weil die Geſetze davon ganz ſtille ſchwei- gen, und ſie aus den vorliegenden Vertraͤgen und letz- ten 11) L. 8 D. de cap. minut. 12) S. Gmelin a. a. O. §. 59. S. 93. folg.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/33
Zitationshilfe: Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/33>, abgerufen am 24.11.2024.