Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790.1. Buch. 1. Tit. alsdenn, wenn die Absicht, welche durch dasGesez unmittelbar erreicht werden solte, durch eine wörtliche Erklärung verfehlt wer- den würde, ist der Richter befugt, den Sinn der Worte mit billiger Rücksicht auf die vorhandene Umstände dieser Absicht ge- mäß auszudehnen oder einzuschränken. Es wird sich in der Folge bey der Lehre von der Inter- pretation noch mehr Gelegenheit finden, die Gren- zen der richterlichen Billigkeit genauer zu bestimmen. §. 27. Begrif der Rechtsgelahrtheit. Was ist Theorie und Praxis derselben? Begrif des wahren Rechtsgelehrten? Wir schreiten nun zur Entwickelung des Begrifs 1) Objectivisch genommen denkt man sich darun- ter den Inbegrif methodisch bearbeiteter Wahrheiten von den Rechten und Ver- bind- sich hatte, wie neller in der oben angeführten Abhand-
lung §. XX. bemerkt hat. Hier darf der Richter nicht zu Gunsten des einen Theils gelind seyn, denn seine Ge- lindigkeit gegen den einen wäre Ungerechtigkeit gegen den andern. Wollen die streitenden Theile nicht selbst Gelin- digkeit gegen einander beweisen, und der Richter findet Bedenklichkeit, dem andern zu zuerkennen, was das offen- bare Recht mit sich bringt, so muß er die Entscheidung dem Gesezgeber anheim stellen. 1. Buch. 1. Tit. alsdenn, wenn die Abſicht, welche durch dasGeſez unmittelbar erreicht werden ſolte, durch eine woͤrtliche Erklaͤrung verfehlt wer- den wuͤrde, iſt der Richter befugt, den Sinn der Worte mit billiger Ruͤckſicht auf die vorhandene Umſtaͤnde dieſer Abſicht ge- maͤß auszudehnen oder einzuſchraͤnken. Es wird ſich in der Folge bey der Lehre von der Inter- pretation noch mehr Gelegenheit finden, die Gren- zen der richterlichen Billigkeit genauer zu beſtimmen. §. 27. Begrif der Rechtsgelahrtheit. Was iſt Theorie und Praxis derſelben? Begrif des wahren Rechtsgelehrten? Wir ſchreiten nun zur Entwickelung des Begrifs 1) Objectiviſch genommen denkt man ſich darun- ter den Inbegrif methodiſch bearbeiteter Wahrheiten von den Rechten und Ver- bind- ſich hatte, wie neller in der oben angefuͤhrten Abhand-
lung §. XX. bemerkt hat. Hier darf der Richter nicht zu Gunſten des einen Theils gelind ſeyn, denn ſeine Ge- lindigkeit gegen den einen waͤre Ungerechtigkeit gegen den andern. Wollen die ſtreitenden Theile nicht ſelbſt Gelin- digkeit gegen einander beweiſen, und der Richter findet Bedenklichkeit, dem andern zu zuerkennen, was das offen- bare Recht mit ſich bringt, ſo muß er die Entſcheidung dem Geſezgeber anheim ſtellen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0216" n="196"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr">1. Buch. 1. Tit.</hi></fw><lb/><hi rendition="#g">alsdenn, wenn die Abſicht, welche durch das<lb/> Geſez unmittelbar erreicht werden ſolte,<lb/> durch eine woͤrtliche Erklaͤrung verfehlt wer-<lb/> den wuͤrde, iſt der Richter befugt, den Sinn<lb/> der Worte mit billiger Ruͤckſicht auf die<lb/> vorhandene Umſtaͤnde dieſer Abſicht ge-<lb/> maͤß auszudehnen oder einzuſchraͤnken</hi>. Es<lb/> wird ſich in der Folge bey der Lehre von der <hi rendition="#g">Inter-<lb/> pretation</hi> noch mehr Gelegenheit finden, die Gren-<lb/> zen der richterlichen Billigkeit genauer zu beſtimmen.</p> </div><lb/> <div n="3"> <head>§. 27.<lb/> Begrif der <hi rendition="#g">Rechtsgelahrtheit</hi>. Was iſt <hi rendition="#g">Theorie</hi><lb/> und <hi rendition="#g">Praxis</hi> derſelben? Begrif des wahren<lb/><hi rendition="#g">Rechtsgelehrten</hi>?</head><lb/> <p>Wir ſchreiten nun zur Entwickelung des Begrifs<lb/> der <hi rendition="#fr">Rechtsgelahrtheit</hi> ſelbſt, ihrer weſentlichen Ei-<lb/> genſchaften und Theile, nachdem wir von den Rechten<lb/> und Verbindlichkeiten, womit ſich dieſelbe beſchaͤftiget,<lb/> und denen Geſetzen ſelbſt, aus welchen jene herflieſſen,<lb/> das noͤthige vorausgeſchickt haben. <hi rendition="#fr">Rechtsgelahrtheit</hi><lb/> (<hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">Iurisprudentia</hi></hi>) wird in zwifacher Bedeutung genommen.</p><lb/> <list> <item>1) <hi rendition="#g">Objectiviſch</hi> genommen denkt man ſich darun-<lb/> ter den <hi rendition="#g">Inbegrif methodiſch bearbeiteter<lb/> Wahrheiten von den Rechten und Ver-</hi><lb/> <fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#g">bind-</hi></fw><lb/><p><note xml:id="seg2pn_20_2" prev="#seg2pn_20_1" place="foot" n="35)">ſich hatte, wie <hi rendition="#k"><hi rendition="#aq">neller</hi></hi> in der oben angefuͤhrten Abhand-<lb/> lung §. <hi rendition="#aq">XX.</hi> bemerkt hat. Hier darf der Richter nicht<lb/> zu Gunſten des einen Theils gelind ſeyn, denn ſeine Ge-<lb/> lindigkeit gegen den einen waͤre Ungerechtigkeit gegen den<lb/> andern. Wollen die ſtreitenden Theile nicht ſelbſt Gelin-<lb/> digkeit gegen einander beweiſen, und der Richter findet<lb/> Bedenklichkeit, dem andern zu zuerkennen, was das offen-<lb/> bare Recht mit ſich bringt, ſo muß er die Entſcheidung<lb/> dem Geſezgeber anheim ſtellen.</note></p><lb/></item> </list> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [196/0216]
1. Buch. 1. Tit.
alsdenn, wenn die Abſicht, welche durch das
Geſez unmittelbar erreicht werden ſolte,
durch eine woͤrtliche Erklaͤrung verfehlt wer-
den wuͤrde, iſt der Richter befugt, den Sinn
der Worte mit billiger Ruͤckſicht auf die
vorhandene Umſtaͤnde dieſer Abſicht ge-
maͤß auszudehnen oder einzuſchraͤnken. Es
wird ſich in der Folge bey der Lehre von der Inter-
pretation noch mehr Gelegenheit finden, die Gren-
zen der richterlichen Billigkeit genauer zu beſtimmen.
§. 27.
Begrif der Rechtsgelahrtheit. Was iſt Theorie
und Praxis derſelben? Begrif des wahren
Rechtsgelehrten?
Wir ſchreiten nun zur Entwickelung des Begrifs
der Rechtsgelahrtheit ſelbſt, ihrer weſentlichen Ei-
genſchaften und Theile, nachdem wir von den Rechten
und Verbindlichkeiten, womit ſich dieſelbe beſchaͤftiget,
und denen Geſetzen ſelbſt, aus welchen jene herflieſſen,
das noͤthige vorausgeſchickt haben. Rechtsgelahrtheit
(Iurisprudentia) wird in zwifacher Bedeutung genommen.
1) Objectiviſch genommen denkt man ſich darun-
ter den Inbegrif methodiſch bearbeiteter
Wahrheiten von den Rechten und Ver-
bind-
35)
35) ſich hatte, wie neller in der oben angefuͤhrten Abhand-
lung §. XX. bemerkt hat. Hier darf der Richter nicht
zu Gunſten des einen Theils gelind ſeyn, denn ſeine Ge-
lindigkeit gegen den einen waͤre Ungerechtigkeit gegen den
andern. Wollen die ſtreitenden Theile nicht ſelbſt Gelin-
digkeit gegen einander beweiſen, und der Richter findet
Bedenklichkeit, dem andern zu zuerkennen, was das offen-
bare Recht mit ſich bringt, ſo muß er die Entſcheidung
dem Geſezgeber anheim ſtellen.
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