Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

1. Buch. 1. Tit.
ordnung des Civilrechts, sondern in der Natur und
Wesen dieser Pflichten selbst. Denn da sie an sich
auch in aussergesellschaftlichem Zustande mit Gewalt nicht
erzwungen werden können: so lässet sich ohne Wider-
spruch nicht behaupten, daß die Civilgesetze ihnen eine
Wirkung entzogen hätten, welche sie doch ihrer Na-
tur
nach nicht haben? Es liegt also ganz offenbar
vor Augen, daß sie in den Systemen und Lehrbüchern
des bürgerlichen Rechts am ganz unrechten Orte stehen,
wenn sie mit wirklichen Zwangspflichten, die nur durch
besondere Vorschrift des Civilrechts ganz oder zum
Theil unerzwingbar geworden sind, eine Classe for-
miren.

Unzutreffend ist ferner die gemeine Lehrart von
der natürlichen Verbindlichkeit auch darum, weil, wenn
man die ganze Summe der blos natürlichen Verbind-
lichkeiten, die nicht ausdrücklich in den Civilgesetzen be-
stättigt worden, in Absicht der gerichtlichen Wirkung nur
auf zwey Classen reducirt, nehmlich, daß sie entweder durch-
aus ohne allen Effect, oder nur nicht klagbar, üb-
rigens aber völlig wirksam sind, man hierdurch in die Ver-
legenheit gesetzet wird, allen natürlichen Zwangspflichten,
wovon die bürgerlichen Gesetze schweigen, den effectum
agendi
zu versagen, welches aber gegen die gesunde
Vernunft, gegen den Geist des Römischen und Kano-
nischen Rechts, ja gegen den heutigen Gerichtsgebrauch
selbst offenbar streitet, wie zu seiner Zeit gezeigt werden
soll 86).


Irrig
86) Daß diese irrige Meinung wirklich in den Systemen und
Commentarien der treflichsten Juristen herrsche, will ich
nur durch ein paar Beispiele erweisen. So schreibt Io.
God
. schaumburg in Compendio iuris Dige-
stor
. Lib. XLIV. Tit. 7. §. 3. Sigillatim vero, ut obli-

gatio

1. Buch. 1. Tit.
ordnung des Civilrechts, ſondern in der Natur und
Weſen dieſer Pflichten ſelbſt. Denn da ſie an ſich
auch in auſſergeſellſchaftlichem Zuſtande mit Gewalt nicht
erzwungen werden koͤnnen: ſo laͤſſet ſich ohne Wider-
ſpruch nicht behaupten, daß die Civilgeſetze ihnen eine
Wirkung entzogen haͤtten, welche ſie doch ihrer Na-
tur
nach nicht haben? Es liegt alſo ganz offenbar
vor Augen, daß ſie in den Syſtemen und Lehrbuͤchern
des buͤrgerlichen Rechts am ganz unrechten Orte ſtehen,
wenn ſie mit wirklichen Zwangspflichten, die nur durch
beſondere Vorſchrift des Civilrechts ganz oder zum
Theil unerzwingbar geworden ſind, eine Claſſe for-
miren.

Unzutreffend iſt ferner die gemeine Lehrart von
der natuͤrlichen Verbindlichkeit auch darum, weil, wenn
man die ganze Summe der blos natuͤrlichen Verbind-
lichkeiten, die nicht ausdruͤcklich in den Civilgeſetzen be-
ſtaͤttigt worden, in Abſicht der gerichtlichen Wirkung nur
auf zwey Claſſen reducirt, nehmlich, daß ſie entweder durch-
aus ohne allen Effect, oder nur nicht klagbar, uͤb-
rigens aber voͤllig wirkſam ſind, man hierdurch in die Ver-
legenheit geſetzet wird, allen natuͤrlichen Zwangspflichten,
wovon die buͤrgerlichen Geſetze ſchweigen, den effectum
agendi
zu verſagen, welches aber gegen die geſunde
Vernunft, gegen den Geiſt des Roͤmiſchen und Kano-
niſchen Rechts, ja gegen den heutigen Gerichtsgebrauch
ſelbſt offenbar ſtreitet, wie zu ſeiner Zeit gezeigt werden
ſoll 86).


Irrig
86) Daß dieſe irrige Meinung wirklich in den Syſtemen und
Commentarien der treflichſten Juriſten herrſche, will ich
nur durch ein paar Beiſpiele erweiſen. So ſchreibt Io.
God
. schaumburg in Compendio iuris Dige-
ſtor
. Lib. XLIV. Tit. 7. §. 3. Sigillatim vero, ut obli-

gatio
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0188" n="168"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr">1. Buch. 1. Tit.</hi></fw><lb/>
ordnung des Civilrechts, &#x017F;ondern in der Natur und<lb/>
We&#x017F;en die&#x017F;er Pflichten &#x017F;elb&#x017F;t. Denn da &#x017F;ie an &#x017F;ich<lb/>
auch in au&#x017F;&#x017F;erge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichem Zu&#x017F;tande mit Gewalt nicht<lb/>
erzwungen werden ko&#x0364;nnen: &#x017F;o la&#x0364;&#x017F;&#x017F;et &#x017F;ich ohne Wider-<lb/>
&#x017F;pruch nicht behaupten, daß die Civilge&#x017F;etze ihnen eine<lb/>
Wirkung <hi rendition="#g">entzogen</hi> ha&#x0364;tten, welche &#x017F;ie doch ihrer <hi rendition="#g">Na-<lb/>
tur</hi> nach nicht haben? Es liegt al&#x017F;o ganz offenbar<lb/>
vor Augen, daß &#x017F;ie in den Sy&#x017F;temen und Lehrbu&#x0364;chern<lb/>
des bu&#x0364;rgerlichen Rechts am ganz unrechten Orte &#x017F;tehen,<lb/>
wenn &#x017F;ie mit wirklichen Zwangspflichten, die nur durch<lb/>
be&#x017F;ondere Vor&#x017F;chrift des Civilrechts ganz oder zum<lb/>
Theil unerzwingbar <hi rendition="#g">geworden</hi> &#x017F;ind, eine Cla&#x017F;&#x017F;e for-<lb/>
miren.</p><lb/>
            <p>Unzutreffend i&#x017F;t ferner die gemeine Lehrart von<lb/>
der natu&#x0364;rlichen Verbindlichkeit auch darum, weil, wenn<lb/>
man die ganze Summe der blos natu&#x0364;rlichen Verbind-<lb/>
lichkeiten, die nicht ausdru&#x0364;cklich in den Civilge&#x017F;etzen be-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ttigt worden, in Ab&#x017F;icht der gerichtlichen Wirkung nur<lb/>
auf zwey Cla&#x017F;&#x017F;en reducirt, nehmlich, daß &#x017F;ie entweder durch-<lb/>
aus <hi rendition="#g">ohne allen Effect</hi>, oder <hi rendition="#g">nur nicht klagbar</hi>, u&#x0364;b-<lb/>
rigens aber vo&#x0364;llig wirk&#x017F;am &#x017F;ind, man hierdurch in die Ver-<lb/>
legenheit ge&#x017F;etzet wird, allen natu&#x0364;rlichen Zwangspflichten,<lb/>
wovon die bu&#x0364;rgerlichen Ge&#x017F;etze &#x017F;chweigen, den <hi rendition="#aq">effectum<lb/>
agendi</hi> zu ver&#x017F;agen, welches aber gegen die ge&#x017F;unde<lb/>
Vernunft, gegen den Gei&#x017F;t des Ro&#x0364;mi&#x017F;chen und Kano-<lb/>
ni&#x017F;chen Rechts, ja gegen den heutigen Gerichtsgebrauch<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t offenbar &#x017F;treitet, wie zu &#x017F;einer Zeit gezeigt werden<lb/>
&#x017F;oll <note xml:id="seg2pn_16_1" next="#seg2pn_16_2" place="foot" n="86)">Daß die&#x017F;e irrige Meinung wirklich in den Sy&#x017F;temen und<lb/>
Commentarien der treflich&#x017F;ten Juri&#x017F;ten herr&#x017F;che, will ich<lb/>
nur durch ein paar Bei&#x017F;piele erwei&#x017F;en. So &#x017F;chreibt <hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">Io.<lb/>
God</hi>. <hi rendition="#k">schaumburg</hi><hi rendition="#g">in Compendio iuris Dige-<lb/>
&#x017F;tor</hi>. Lib. XLIV. Tit. 7. §. 3. Sigillatim vero, ut <hi rendition="#i">obli-</hi></hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">gatio</hi></hi></fw></note>.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Irrig</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[168/0188] 1. Buch. 1. Tit. ordnung des Civilrechts, ſondern in der Natur und Weſen dieſer Pflichten ſelbſt. Denn da ſie an ſich auch in auſſergeſellſchaftlichem Zuſtande mit Gewalt nicht erzwungen werden koͤnnen: ſo laͤſſet ſich ohne Wider- ſpruch nicht behaupten, daß die Civilgeſetze ihnen eine Wirkung entzogen haͤtten, welche ſie doch ihrer Na- tur nach nicht haben? Es liegt alſo ganz offenbar vor Augen, daß ſie in den Syſtemen und Lehrbuͤchern des buͤrgerlichen Rechts am ganz unrechten Orte ſtehen, wenn ſie mit wirklichen Zwangspflichten, die nur durch beſondere Vorſchrift des Civilrechts ganz oder zum Theil unerzwingbar geworden ſind, eine Claſſe for- miren. Unzutreffend iſt ferner die gemeine Lehrart von der natuͤrlichen Verbindlichkeit auch darum, weil, wenn man die ganze Summe der blos natuͤrlichen Verbind- lichkeiten, die nicht ausdruͤcklich in den Civilgeſetzen be- ſtaͤttigt worden, in Abſicht der gerichtlichen Wirkung nur auf zwey Claſſen reducirt, nehmlich, daß ſie entweder durch- aus ohne allen Effect, oder nur nicht klagbar, uͤb- rigens aber voͤllig wirkſam ſind, man hierdurch in die Ver- legenheit geſetzet wird, allen natuͤrlichen Zwangspflichten, wovon die buͤrgerlichen Geſetze ſchweigen, den effectum agendi zu verſagen, welches aber gegen die geſunde Vernunft, gegen den Geiſt des Roͤmiſchen und Kano- niſchen Rechts, ja gegen den heutigen Gerichtsgebrauch ſelbſt offenbar ſtreitet, wie zu ſeiner Zeit gezeigt werden ſoll 86). Irrig 86) Daß dieſe irrige Meinung wirklich in den Syſtemen und Commentarien der treflichſten Juriſten herrſche, will ich nur durch ein paar Beiſpiele erweiſen. So ſchreibt Io. God. schaumburg in Compendio iuris Dige- ſtor. Lib. XLIV. Tit. 7. §. 3. Sigillatim vero, ut obli- gatio

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/188
Zitationshilfe: Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/188>, abgerufen am 28.11.2024.