habt ihr seinen Gesang gehört, wenn er vom frohen Frühling singt, oder von der frohen Ernde, oder vom bunten Herbst, oder von der Pflege der Herde? Ach! ich liebe den schönsten Hirten, und er weiss es nicht, dass ich ihn liebe. O wie lang warest du, herber unfreundlicher Winter! der du von den Fluren uns scheuchest, wie lang ists, seit ich im Herbst ihn das lezte mal sah! Ach! da lag er schlummernd im Busch, wie schön lag er da! wie spielten die Winde mit seinen Lo- ken! und der Sonnenschein streute schwebende Schatten der Blätter auf ihn hin: O ich seh ihn noch, sie hüpften auf seinem schönen Gesicht umher, die Schatten der Blätter, und er lächelte wie im frohesten Traum. Schnell sammelt' ich da Blumen, und wand sanft einen Kranz um des schlafenden Haar und um seine Flöte, und da trat ich zurük; ich will izt warten, sprach ich, bis er aufwachet; wie wird er lächeln, wie wird er sich wundern, wenn er sein Haupt um-
habt ihr ſeinen Geſang gehört, wenn er vom frohen Frühling ſingt, oder von der frohen Ernde, oder vom bunten Herbſt, oder von der Pflege der Herde? Ach! ich liebe den ſchönſten Hirten, und er weiſs es nicht, daſs ich ihn liebe. O wie lang wareſt du, herber unfreundlicher Winter! der du von den Fluren uns ſcheucheſt, wie lang iſts, ſeit ich im Herbſt ihn das lezte mal ſah! Ach! da lag er ſchlummernd im Buſch, wie ſchön lag er da! wie ſpielten die Winde mit ſeinen Lo- ken! und der Sonnenſchein ſtreute ſchwebende Schatten der Blätter auf ihn hin: O ich ſeh ihn noch, ſie hüpften auf ſeinem ſchönen Geſicht umher, die Schatten der Blätter, und er lächelte wie im froheſten Traum. Schnell ſammelt’ ich da Blumen, und wand ſanft einen Kranz um des ſchlafenden Haar und um ſeine Flöte, und da trat ich zurük; ich will izt warten, ſprach ich, bis er aufwachet; wie wird er lächeln, wie wird er ſich wundern, wenn er ſein Haupt um-
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habt ihr ſeinen Geſang gehört, wenn er vom
frohen Frühling ſingt, oder von der frohen Ernde,
oder vom bunten Herbſt, oder von der Pflege der
Herde? Ach! ich liebe den ſchönſten Hirten,
und er weiſs es nicht, daſs ich ihn liebe. O wie
lang wareſt du, herber unfreundlicher Winter!
der du von den Fluren uns ſcheucheſt, wie lang
iſts, ſeit ich im Herbſt ihn das lezte mal ſah!
Ach! da lag er ſchlummernd im Buſch, wie ſchön
lag er da! wie ſpielten die Winde mit ſeinen Lo-
ken! und der Sonnenſchein ſtreute ſchwebende
Schatten der Blätter auf ihn hin: O ich ſeh ihn
noch, ſie hüpften auf ſeinem ſchönen Geſicht
umher, die Schatten der Blätter, und er lächelte
wie im froheſten Traum. Schnell ſammelt’ ich
da Blumen, und wand ſanft einen Kranz um des
ſchlafenden Haar und um ſeine Flöte, und da
trat ich zurük; ich will izt warten, ſprach ich,
bis er aufwachet; wie wird er lächeln, wie
wird er ſich wundern, wenn er ſein Haupt um-
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[Geßner, Salomon]: Idyllen. Zürich, 1756, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gessner_idyllen_1756/79>, abgerufen am 05.07.2024.
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