Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868.Dieffenbach erst 1840 seine Beobachtungen anstellte, also über zwei Generationen (70 Jahre) nach der ersten Entdeckung der Insel. Allein man könnte sagen: und doch haben andere Völker dasselbe plötzliche Hereinbrechen einer übermächtigen Kultur durchgemacht und überwunden. Man könnte unsere eigenen Vorfahren, die alten Deutschen nennen. Und doch, welch ein ungeheurer Unterschied hier in Allem! Denn erstens war die griechischrömische Kultur, wie sie zu den Germanen kam, unendlich bequemer als die moderne, wie sie die Naturvölker annehmen sollen; zweitens standen die Germanen in jeder Weise, auch in ihrer leiblichen Beschaffenheit, jener Kultur und ihren Trägern bei weitem näher als die Naturvölker den Europäern; drittens brach dieselbe nicht so unaufhaltsam, so plötzlich, so rücksichtlos über die Germanen herein, wie über jene Völker, sondern ganz allmählich, durch Jahrhunderte langes Vertrautwerden mit dem Einzelnen, wobei das romanisirte Gallien keine unbedeutende Vermittlerrolle spielte; und endlich kam sie nicht in solchem Grade feindselig, wie die moderne Kultur über die sogenannten Wilden. § 14. Psychische Einwirkungen der Kultur. Und so blieben unsere Vorfahren vor dem namentlich bewahrt, was den Naturvölkern so verhängnissvoll wurde: vor dem geistig deprimirenden Eindruck, den die Kultur auf die Naturvölker macht. Die Germanen fanden Gelegenheit selbständig siegend in dem Land ihrer geistigen Besieger aufzutreten: sie behielten stets das gegründete Bewusstsein eigenes Werthes und dass sie nicht in jeder Beziehung untergeordnet seien. Sie standen den Römern gegenüber wie der Schüler dem Lehrer, der des Schülers geistiges Leben leitet, corrigirt, erhöht, aber nicht verletzt, vernichtet, verhöhnt. Ganz anders aber die Naturvölker. Ihr Geistesleben, alles, was sie dachten, fühlten und glaubten ist ihnen durch ihr Bekanntwerden mit den Europäern was sollen wir anders sagen als geradezu (und oft mit der boshaftesten Absichtlichkeit) vernichtet worden. Hierdurch wurden selbstverständlich je gebildeter die Völker waren, sie um so härter betroffen; so dass vieles von dem im folgenden Entwickelten auf die rohesten Stämme Südamerikas oder Neuhollands keine Anwendung findet. Zunächst die Religion. Die meisten Naturvölker sind von sehr reiner und inniger Religiosität, bei allen Abgeschmacktheiten und Monstrositäten ihres Glaubens. So waren es die Mexikaner. Ihre Dieffenbach erst 1840 seine Beobachtungen anstellte, also über zwei Generationen (70 Jahre) nach der ersten Entdeckung der Insel. Allein man könnte sagen: und doch haben andere Völker dasselbe plötzliche Hereinbrechen einer übermächtigen Kultur durchgemacht und überwunden. Man könnte unsere eigenen Vorfahren, die alten Deutschen nennen. Und doch, welch ein ungeheurer Unterschied hier in Allem! Denn erstens war die griechischrömische Kultur, wie sie zu den Germanen kam, unendlich bequemer als die moderne, wie sie die Naturvölker annehmen sollen; zweitens standen die Germanen in jeder Weise, auch in ihrer leiblichen Beschaffenheit, jener Kultur und ihren Trägern bei weitem näher als die Naturvölker den Europäern; drittens brach dieselbe nicht so unaufhaltsam, so plötzlich, so rücksichtlos über die Germanen herein, wie über jene Völker, sondern ganz allmählich, durch Jahrhunderte langes Vertrautwerden mit dem Einzelnen, wobei das romanisirte Gallien keine unbedeutende Vermittlerrolle spielte; und endlich kam sie nicht in solchem Grade feindselig, wie die moderne Kultur über die sogenannten Wilden. § 14. Psychische Einwirkungen der Kultur. Und so blieben unsere Vorfahren vor dem namentlich bewahrt, was den Naturvölkern so verhängnissvoll wurde: vor dem geistig deprimirenden Eindruck, den die Kultur auf die Naturvölker macht. Die Germanen fanden Gelegenheit selbständig siegend in dem Land ihrer geistigen Besieger aufzutreten: sie behielten stets das gegründete Bewusstsein eigenes Werthes und dass sie nicht in jeder Beziehung untergeordnet seien. Sie standen den Römern gegenüber wie der Schüler dem Lehrer, der des Schülers geistiges Leben leitet, corrigirt, erhöht, aber nicht verletzt, vernichtet, verhöhnt. Ganz anders aber die Naturvölker. Ihr Geistesleben, alles, was sie dachten, fühlten und glaubten ist ihnen durch ihr Bekanntwerden mit den Europäern was sollen wir anders sagen als geradezu (und oft mit der boshaftesten Absichtlichkeit) vernichtet worden. Hierdurch wurden selbstverständlich je gebildeter die Völker waren, sie um so härter betroffen; so dass vieles von dem im folgenden Entwickelten auf die rohesten Stämme Südamerikas oder Neuhollands keine Anwendung findet. Zunächst die Religion. 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Denn erstens war die griechischrömische Kultur, wie sie zu den Germanen kam, unendlich bequemer als die moderne, wie sie die Naturvölker annehmen sollen; zweitens standen die Germanen in jeder Weise, auch in ihrer leiblichen Beschaffenheit, jener Kultur und ihren Trägern bei weitem näher als die Naturvölker den Europäern; drittens brach dieselbe nicht so unaufhaltsam, so plötzlich, so rücksichtlos über die Germanen herein, wie über jene Völker, sondern ganz allmählich, durch Jahrhunderte langes Vertrautwerden mit dem Einzelnen, wobei das romanisirte Gallien keine unbedeutende Vermittlerrolle spielte; und endlich kam sie nicht in solchem Grade feindselig, wie die moderne Kultur über die sogenannten Wilden.</p> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div n="1"> <head>§ 14. <hi rendition="#i"><hi rendition="#i">Psychische Einwirkungen der Kultur.</hi></hi></head><lb/> <p>Und so blieben unsere Vorfahren vor dem namentlich bewahrt, was den Naturvölkern so verhängnissvoll wurde: vor dem geistig deprimirenden Eindruck, den die Kultur auf die Naturvölker macht. 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Dieffenbach erst 1840 seine Beobachtungen anstellte, also über zwei Generationen (70 Jahre) nach der ersten Entdeckung der Insel. Allein man könnte sagen: und doch haben andere Völker dasselbe plötzliche Hereinbrechen einer übermächtigen Kultur durchgemacht und überwunden. Man könnte unsere eigenen Vorfahren, die alten Deutschen nennen. Und doch, welch ein ungeheurer Unterschied hier in Allem! Denn erstens war die griechischrömische Kultur, wie sie zu den Germanen kam, unendlich bequemer als die moderne, wie sie die Naturvölker annehmen sollen; zweitens standen die Germanen in jeder Weise, auch in ihrer leiblichen Beschaffenheit, jener Kultur und ihren Trägern bei weitem näher als die Naturvölker den Europäern; drittens brach dieselbe nicht so unaufhaltsam, so plötzlich, so rücksichtlos über die Germanen herein, wie über jene Völker, sondern ganz allmählich, durch Jahrhunderte langes Vertrautwerden mit dem Einzelnen, wobei das romanisirte Gallien keine unbedeutende Vermittlerrolle spielte; und endlich kam sie nicht in solchem Grade feindselig, wie die moderne Kultur über die sogenannten Wilden.
§ 14. Psychische Einwirkungen der Kultur.
Und so blieben unsere Vorfahren vor dem namentlich bewahrt, was den Naturvölkern so verhängnissvoll wurde: vor dem geistig deprimirenden Eindruck, den die Kultur auf die Naturvölker macht. Die Germanen fanden Gelegenheit selbständig siegend in dem Land ihrer geistigen Besieger aufzutreten: sie behielten stets das gegründete Bewusstsein eigenes Werthes und dass sie nicht in jeder Beziehung untergeordnet seien. Sie standen den Römern gegenüber wie der Schüler dem Lehrer, der des Schülers geistiges Leben leitet, corrigirt, erhöht, aber nicht verletzt, vernichtet, verhöhnt.
Ganz anders aber die Naturvölker. Ihr Geistesleben, alles, was sie dachten, fühlten und glaubten ist ihnen durch ihr Bekanntwerden mit den Europäern was sollen wir anders sagen als geradezu (und oft mit der boshaftesten Absichtlichkeit) vernichtet worden. Hierdurch wurden selbstverständlich je gebildeter die Völker waren, sie um so härter betroffen; so dass vieles von dem im folgenden Entwickelten auf die rohesten Stämme Südamerikas oder Neuhollands keine Anwendung findet.
Zunächst die Religion. Die meisten Naturvölker sind von sehr reiner und inniger Religiosität, bei allen Abgeschmacktheiten und Monstrositäten ihres Glaubens. So waren es die Mexikaner. Ihre
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Zitationshilfe: | Gerland, Georg: Über das Aussterben der Naturvölker. Leipzig, 1868, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerland_naturvoelker_1868/101>, abgerufen am 16.02.2025. |