Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865.§. 45. Die Gesetzgebung. Congruenz zwischen der Natur des Gesetzes und seinemGegenstande findet bei dem s. g. Finanzgesetze statt, das dem grössten Theile seines Inhalts nach nur schein- bar ein Gesetz, in Wirklichkeit bloss eine Constatirung der über gewisse Finanzsätze erzielten Uebereinstimmung zwischen Regierung und Ständen ist.3 Aber so gross auch diese inneren Verschiedenheiten der Gesetze sind, so sind doch die Grundsätze über die Form ihrer Ent- stehung im Ganzen dieselben, und nur für das Zustande- kommen von Verfassungs-4 und Finanzgesetzen bestehen besondere Rechtssätze, in welchen die Eigenthümlichkeit ihres Wesens Berücksichtigung findet. Noch weniger haben die sonstigen Verschiedenheiten die Staatsgewalt selbst überdauern, von der sie geschaffen worden sind. Sie erhalten, wenn sie längere Zeit bestanden haben, neben der Staatsgewalt, von der sie ausgegangen sind, noch eine neue Stütze in dem Rechtsbewusstsein des Volks, das sich ihren Inhalt selbständig aneignet. Als ein frappantes Beispiel dieser Wahrheit stellt sich die übereinstimmende Auslegung dar, welche der so ganz allgemein lautende Art. 2. der Rheinbundsacte gefunden hat, indem sie die verschiedenen Arten der Reichsgesetze unterscheidet und die Wirksamkeit des Artikels auf die mit der Verfassung des Reichs untrennbar verbundenen Gesetze beschränkt. 3 Siehe unter §. 51. 4 Von ganz entgegengesetzten politischen Parteien geht
freilich gleichmässig das Bestreben aus, das Verfassungsgesetz "flüssig" zu machen und der Veränderlichkeit gewöhnlicher Ge- setze in so lange zu unterwerfen, bis ihre Vorstellung einer Musterverfassung hergestellt sei. Wo solche Bestrebungen zur Herrschaft kommen, wird mit der Erschütterung des Glaubens an die Festigkeit des höheren Rechts der Verfassung zugleich das Vertrauen auf die Beständigkeit der ganzen Rechtsordnung er- schüttert. §. 45. Die Gesetzgebung. Congruenz zwischen der Natur des Gesetzes und seinemGegenstande findet bei dem s. g. Finanzgesetze statt, das dem grössten Theile seines Inhalts nach nur schein- bar ein Gesetz, in Wirklichkeit bloss eine Constatirung der über gewisse Finanzsätze erzielten Uebereinstimmung zwischen Regierung und Ständen ist.3 Aber so gross auch diese inneren Verschiedenheiten der Gesetze sind, so sind doch die Grundsätze über die Form ihrer Ent- stehung im Ganzen dieselben, und nur für das Zustande- kommen von Verfassungs-4 und Finanzgesetzen bestehen besondere Rechtssätze, in welchen die Eigenthümlichkeit ihres Wesens Berücksichtigung findet. Noch weniger haben die sonstigen Verschiedenheiten die Staatsgewalt selbst überdauern, von der sie geschaffen worden sind. Sie erhalten, wenn sie längere Zeit bestanden haben, neben der Staatsgewalt, von der sie ausgegangen sind, noch eine neue Stütze in dem Rechtsbewusstsein des Volks, das sich ihren Inhalt selbständig aneignet. Als ein frappantes Beispiel dieser Wahrheit stellt sich die übereinstimmende Auslegung dar, welche der so ganz allgemein lautende Art. 2. der Rheinbundsacte gefunden hat, indem sie die verschiedenen Arten der Reichsgesetze unterscheidet und die Wirksamkeit des Artikels auf die mit der Verfassung des Reichs untrennbar verbundenen Gesetze beschränkt. 3 Siehe unter §. 51. 4 Von ganz entgegengesetzten politischen Parteien geht
freilich gleichmässig das Bestreben aus, das Verfassungsgesetz „flüssig“ zu machen und der Veränderlichkeit gewöhnlicher Ge- setze in so lange zu unterwerfen, bis ihre Vorstellung einer Musterverfassung hergestellt sei. Wo solche Bestrebungen zur Herrschaft kommen, wird mit der Erschütterung des Glaubens an die Festigkeit des höheren Rechts der Verfassung zugleich das Vertrauen auf die Beständigkeit der ganzen Rechtsordnung er- schüttert. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0157" n="139"/><fw place="top" type="header">§. 45. Die Gesetzgebung.</fw><lb/> Congruenz zwischen der Natur des Gesetzes und seinem<lb/> Gegenstande findet bei dem s. g. Finanzgesetze statt,<lb/> das dem grössten Theile seines Inhalts nach nur schein-<lb/> bar ein Gesetz, in Wirklichkeit bloss eine Constatirung<lb/> der über gewisse Finanzsätze erzielten Uebereinstimmung<lb/> zwischen Regierung und Ständen ist.<note place="foot" n="3">Siehe unter §. 51.</note> Aber so gross<lb/> auch diese inneren Verschiedenheiten der Gesetze sind,<lb/> so sind doch die Grundsätze über die Form ihrer Ent-<lb/> stehung im Ganzen dieselben, und nur für das Zustande-<lb/> kommen von Verfassungs-<note place="foot" n="4">Von ganz entgegengesetzten politischen Parteien geht<lb/> freilich gleichmässig das Bestreben aus, das Verfassungsgesetz<lb/> „flüssig“ zu machen und der Veränderlichkeit gewöhnlicher Ge-<lb/> setze in so lange zu unterwerfen, bis <hi rendition="#g">ihre</hi> Vorstellung einer<lb/> Musterverfassung hergestellt sei. Wo solche Bestrebungen zur<lb/> Herrschaft kommen, wird mit der Erschütterung des Glaubens an<lb/> die Festigkeit des höheren Rechts der Verfassung zugleich das<lb/> Vertrauen auf die Beständigkeit der ganzen Rechtsordnung er-<lb/> schüttert.</note> und Finanzgesetzen bestehen<lb/> besondere Rechtssätze, in welchen die Eigenthümlichkeit<lb/> ihres Wesens Berücksichtigung findet.</p><lb/> <p>Noch weniger haben die sonstigen Verschiedenheiten<lb/> der Gesetze den Einfluss, dass hiernach die staatsrecht-<lb/> lichen Grundsätze über die Form ihrer Entstehung modi-<lb/><note xml:id="note-0157" prev="#note-0156" place="foot" n="2">die Staatsgewalt selbst überdauern, von der sie geschaffen worden<lb/> sind. Sie erhalten, wenn sie längere Zeit bestanden haben, neben<lb/> der Staatsgewalt, von der sie ausgegangen sind, noch eine neue<lb/> Stütze in dem Rechtsbewusstsein des Volks, das sich ihren Inhalt<lb/> selbständig aneignet. Als ein frappantes Beispiel dieser Wahrheit<lb/> stellt sich die übereinstimmende Auslegung dar, welche der so<lb/> ganz allgemein lautende Art. 2. der Rheinbundsacte gefunden hat,<lb/> indem sie die verschiedenen Arten der Reichsgesetze unterscheidet<lb/> und die Wirksamkeit des Artikels auf die mit der Verfassung des<lb/> Reichs untrennbar verbundenen Gesetze beschränkt.</note><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [139/0157]
§. 45. Die Gesetzgebung.
Congruenz zwischen der Natur des Gesetzes und seinem
Gegenstande findet bei dem s. g. Finanzgesetze statt,
das dem grössten Theile seines Inhalts nach nur schein-
bar ein Gesetz, in Wirklichkeit bloss eine Constatirung
der über gewisse Finanzsätze erzielten Uebereinstimmung
zwischen Regierung und Ständen ist. 3 Aber so gross
auch diese inneren Verschiedenheiten der Gesetze sind,
so sind doch die Grundsätze über die Form ihrer Ent-
stehung im Ganzen dieselben, und nur für das Zustande-
kommen von Verfassungs- 4 und Finanzgesetzen bestehen
besondere Rechtssätze, in welchen die Eigenthümlichkeit
ihres Wesens Berücksichtigung findet.
Noch weniger haben die sonstigen Verschiedenheiten
der Gesetze den Einfluss, dass hiernach die staatsrecht-
lichen Grundsätze über die Form ihrer Entstehung modi-
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3 Siehe unter §. 51.
4 Von ganz entgegengesetzten politischen Parteien geht
freilich gleichmässig das Bestreben aus, das Verfassungsgesetz
„flüssig“ zu machen und der Veränderlichkeit gewöhnlicher Ge-
setze in so lange zu unterwerfen, bis ihre Vorstellung einer
Musterverfassung hergestellt sei. Wo solche Bestrebungen zur
Herrschaft kommen, wird mit der Erschütterung des Glaubens an
die Festigkeit des höheren Rechts der Verfassung zugleich das
Vertrauen auf die Beständigkeit der ganzen Rechtsordnung er-
schüttert.
2 die Staatsgewalt selbst überdauern, von der sie geschaffen worden
sind. Sie erhalten, wenn sie längere Zeit bestanden haben, neben
der Staatsgewalt, von der sie ausgegangen sind, noch eine neue
Stütze in dem Rechtsbewusstsein des Volks, das sich ihren Inhalt
selbständig aneignet. Als ein frappantes Beispiel dieser Wahrheit
stellt sich die übereinstimmende Auslegung dar, welche der so
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Zitationshilfe: | Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerber_staatsrecht_1865/157>, abgerufen am 17.02.2025. |