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Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865.

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§. 39. Die Landstände.
aber die Landeshoheit sich zur wirklichen Staatsgewalt
ausgebildet hatte, fristeten sie nur noch hie und da
eine machtlose Existenz, bis sie allmählich ganz ver-
schwanden. Ganz anders die Landstände, welche seit
der Gründung des deutschen Bundes 6 in der Mehrzahl der
deutschen Staaten durch die neuen Verfassungsgesetze
geschaffen worden sind. 7 Ihre Stellung beruht auf der

unentwickelt und unbestimmt war ihre Stellung zu den wirklich
grossen Angelegenheiten des inneren Staatslebens, z. B. der
Rechtsgesetzgebung, welche ihren individuellen Rechtskreis nicht
unmittelbar berührte. Der fast absolute Character ihres Steuer-
verwilligungsrechts muss privatrechtlich, nicht staatsrechtlich auf-
gefasst werden.
6 Bundesacte Art. 13.: "in allen Bundesstaaten wird eine land-
ständische Verfassung stattfinden." Hierzu die Wiener Schluss-
acte Art. 54--61. Ueber die Auslegung des sehr unbestimmten
Art. 13. wurde früher viel gestritten; siehe v. Campe a. a. O.
S. 234 flg.
7 Man kann die neuen landständischen Verfassungen in ver-
schiedene Gruppen theilen: in solche, welche vor dem Jahre 1830,
wesentlich nach dem Vorbilde der französischen Charte von 1814
geschaffen worden sind; in solche, welche seit 1830 durch den
Anstoss der Ideen der Julirevolution, und in solche, welche unter
dem Einflusse des Jahres 1848 entstanden oder modificirt worden
sind. Der ständische Apparat ist meist dem des englischen Par-
laments, jedoch mehr in der Form nachgebildet worden, in welche
derselbe in Frankreich nach der Restauration oder unter dem
Julikönigthume gefasst worden war. Der Character einer land-
ständischen Institution liegt freilich nicht allein in dem Apparate,
auch nicht einmal allein in der Bestimmung der Rechte des Land-
tags, sondern vor Allem in der Art der Personen, denen die
Ausübung der landständischen Befugnisse anvertraut ist. Wenn
die Rechte des Landtags in zwei Staaten wörtlich gleich bestimmt
sind, aber die Landstände sind in dem einen Staate die Mitglieder
einer politischen Aristokratie, im anderen voraussetzungslos ge-
wählte Abgeordnete, so sind das in der That zwei gänzlich ver-
schiedene Verfassungen. Eine Aenderung des Wahlgesetzes ist
die wichtigste Aenderung der Verfassung selbst. In Deutschland,

§. 39. Die Landstände.
aber die Landeshoheit sich zur wirklichen Staatsgewalt
ausgebildet hatte, fristeten sie nur noch hie und da
eine machtlose Existenz, bis sie allmählich ganz ver-
schwanden. Ganz anders die Landstände, welche seit
der Gründung des deutschen Bundes 6 in der Mehrzahl der
deutschen Staaten durch die neuen Verfassungsgesetze
geschaffen worden sind. 7 Ihre Stellung beruht auf der

unentwickelt und unbestimmt war ihre Stellung zu den wirklich
grossen Angelegenheiten des inneren Staatslebens, z. B. der
Rechtsgesetzgebung, welche ihren individuellen Rechtskreis nicht
unmittelbar berührte. Der fast absolute Character ihres Steuer-
verwilligungsrechts muss privatrechtlich, nicht staatsrechtlich auf-
gefasst werden.
6 Bundesacte Art. 13.: „in allen Bundesstaaten wird eine land-
ständische Verfassung stattfinden.“ Hierzu die Wiener Schluss-
acte Art. 54—61. Ueber die Auslegung des sehr unbestimmten
Art. 13. wurde früher viel gestritten; siehe v. Campe a. a. O.
S. 234 flg.
7 Man kann die neuen landständischen Verfassungen in ver-
schiedene Gruppen theilen: in solche, welche vor dem Jahre 1830,
wesentlich nach dem Vorbilde der französischen Charte von 1814
geschaffen worden sind; in solche, welche seit 1830 durch den
Anstoss der Ideen der Julirevolution, und in solche, welche unter
dem Einflusse des Jahres 1848 entstanden oder modificirt worden
sind. Der ständische Apparat ist meist dem des englischen Par-
laments, jedoch mehr in der Form nachgebildet worden, in welche
derselbe in Frankreich nach der Restauration oder unter dem
Julikönigthume gefasst worden war. Der Character einer land-
ständischen Institution liegt freilich nicht allein in dem Apparate,
auch nicht einmal allein in der Bestimmung der Rechte des Land-
tags, sondern vor Allem in der Art der Personen, denen die
Ausübung der landständischen Befugnisse anvertraut ist. Wenn
die Rechte des Landtags in zwei Staaten wörtlich gleich bestimmt
sind, aber die Landstände sind in dem einen Staate die Mitglieder
einer politischen Aristokratie, im anderen voraussetzungslos ge-
wählte Abgeordnete, so sind das in der That zwei gänzlich ver-
schiedene Verfassungen. Eine Aenderung des Wahlgesetzes ist
die wichtigste Aenderung der Verfassung selbst. In Deutschland,
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[121/0139] §. 39. Die Landstände. aber die Landeshoheit sich zur wirklichen Staatsgewalt ausgebildet hatte, fristeten sie nur noch hie und da eine machtlose Existenz, bis sie allmählich ganz ver- schwanden. Ganz anders die Landstände, welche seit der Gründung des deutschen Bundes 6 in der Mehrzahl der deutschen Staaten durch die neuen Verfassungsgesetze geschaffen worden sind. 7 Ihre Stellung beruht auf der 5 6 Bundesacte Art. 13.: „in allen Bundesstaaten wird eine land- ständische Verfassung stattfinden.“ Hierzu die Wiener Schluss- acte Art. 54—61. Ueber die Auslegung des sehr unbestimmten Art. 13. wurde früher viel gestritten; siehe v. Campe a. a. O. S. 234 flg. 7 Man kann die neuen landständischen Verfassungen in ver- schiedene Gruppen theilen: in solche, welche vor dem Jahre 1830, wesentlich nach dem Vorbilde der französischen Charte von 1814 geschaffen worden sind; in solche, welche seit 1830 durch den Anstoss der Ideen der Julirevolution, und in solche, welche unter dem Einflusse des Jahres 1848 entstanden oder modificirt worden sind. Der ständische Apparat ist meist dem des englischen Par- laments, jedoch mehr in der Form nachgebildet worden, in welche derselbe in Frankreich nach der Restauration oder unter dem Julikönigthume gefasst worden war. Der Character einer land- ständischen Institution liegt freilich nicht allein in dem Apparate, auch nicht einmal allein in der Bestimmung der Rechte des Land- tags, sondern vor Allem in der Art der Personen, denen die Ausübung der landständischen Befugnisse anvertraut ist. Wenn die Rechte des Landtags in zwei Staaten wörtlich gleich bestimmt sind, aber die Landstände sind in dem einen Staate die Mitglieder einer politischen Aristokratie, im anderen voraussetzungslos ge- wählte Abgeordnete, so sind das in der That zwei gänzlich ver- schiedene Verfassungen. Eine Aenderung des Wahlgesetzes ist die wichtigste Aenderung der Verfassung selbst. In Deutschland, 5 unentwickelt und unbestimmt war ihre Stellung zu den wirklich grossen Angelegenheiten des inneren Staatslebens, z. B. der Rechtsgesetzgebung, welche ihren individuellen Rechtskreis nicht unmittelbar berührte. Der fast absolute Character ihres Steuer- verwilligungsrechts muss privatrechtlich, nicht staatsrechtlich auf- gefasst werden.

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Zitationshilfe: Gerber, Carl Friedrich von: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrecht. Leipzig, 1865, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gerber_staatsrecht_1865/139>, abgerufen am 28.11.2024.