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[Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748.

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Gräfinn von G**.
Wir hatten die Erlaubniß alle Tage mit einan-
der umzugehen. Wir durften uns vor Nieman-
den scheuen, als vor uns selbst. Alles stund un-
ter meinen Befehlen, und ich war denen, die
um mich lebten, zu groß, als daß ich von ihnen
bemerkt zu werden hätte fürchten dürfen. Dem
ungeachtet schienen wir beide bey aller unserer
Freyheit und bey unserm täglichen Umgange, an
Statt daß wir vertrauter hätten werden sollen,
einander nur desto fremder zu werden. Er hü-
tete sich, mir die geringste Liebkosung zu machen,
und ich nahm mich vielmehr, als im Anfange, in
Acht, ihm Gelegenheit dazu zu geben. Wir
sahn beide nicht, daß die Behutsamkeit, die wir in
unsern Reden und in unsern Handlungen beob-
achteten, nichts als die stärkste Liebe war; oder
besser, wir fühlten die Liebe so sehr, daß wir ge-
nöthiget wurden, uns strenge Gesetze vorzuschrei-
ben. Jch ahmte ihm nach, und er ahmte an
Bescheidenheit mir nach; und was war dieser
Zwang anders, als die Sorge, einander zu ge-
fallen, und die Ungewißheit, wie wir dieses ein-
ander ohne Fehler zu erkennen geben wollten? Al-
le Augenblicke erwartete ich ein vertrauliches Be-
kenntniß von ihm, und hinderte ihn doch durch
mein Bezeigen daran, und befriedigte meinen
Verdruß mit neuer Hoffnung. Wir hatten
uns durch einen Umgang von zehn oder zwölf Ta-
gen so ausgeredet, daß wir fast nichts mehr wuß-
ten, und wir wurden desto ärmer| an Gesprä-
chen, ie weniger wir unser Herz wollten reden
lassen. Wir spielten gemeiniglich nach der Tafel

Schach

Graͤfinn von G**.
Wir hatten die Erlaubniß alle Tage mit einan-
der umzugehen. Wir durften uns vor Nieman-
den ſcheuen, als vor uns ſelbſt. Alles ſtund un-
ter meinen Befehlen, und ich war denen, die
um mich lebten, zu groß, als daß ich von ihnen
bemerkt zu werden haͤtte fuͤrchten duͤrfen. Dem
ungeachtet ſchienen wir beide bey aller unſerer
Freyheit und bey unſerm taͤglichen Umgange, an
Statt daß wir vertrauter haͤtten werden ſollen,
einander nur deſto fremder zu werden. Er huͤ-
tete ſich, mir die geringſte Liebkoſung zu machen,
und ich nahm mich vielmehr, als im Anfange, in
Acht, ihm Gelegenheit dazu zu geben. Wir
ſahn beide nicht, daß die Behutſamkeit, die wir in
unſern Reden und in unſern Handlungen beob-
achteten, nichts als die ſtaͤrkſte Liebe war; oder
beſſer, wir fuͤhlten die Liebe ſo ſehr, daß wir ge-
noͤthiget wurden, uns ſtrenge Geſetze vorzuſchrei-
ben. Jch ahmte ihm nach, und er ahmte an
Beſcheidenheit mir nach; und was war dieſer
Zwang anders, als die Sorge, einander zu ge-
fallen, und die Ungewißheit, wie wir dieſes ein-
ander ohne Fehler zu erkennen geben wollten? Al-
le Augenblicke erwartete ich ein vertrauliches Be-
kenntniß von ihm, und hinderte ihn doch durch
mein Bezeigen daran, und befriedigte meinen
Verdruß mit neuer Hoffnung. Wir hatten
uns durch einen Umgang von zehn oder zwoͤlf Ta-
gen ſo ausgeredet, daß wir faſt nichts mehr wuß-
ten, und wir wurden deſto aͤrmer| an Geſpraͤ-
chen, ie weniger wir unſer Herz wollten reden
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Schach
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[107/0107] Graͤfinn von G**. Wir hatten die Erlaubniß alle Tage mit einan- der umzugehen. Wir durften uns vor Nieman- den ſcheuen, als vor uns ſelbſt. Alles ſtund un- ter meinen Befehlen, und ich war denen, die um mich lebten, zu groß, als daß ich von ihnen bemerkt zu werden haͤtte fuͤrchten duͤrfen. Dem ungeachtet ſchienen wir beide bey aller unſerer Freyheit und bey unſerm taͤglichen Umgange, an Statt daß wir vertrauter haͤtten werden ſollen, einander nur deſto fremder zu werden. Er huͤ- tete ſich, mir die geringſte Liebkoſung zu machen, und ich nahm mich vielmehr, als im Anfange, in Acht, ihm Gelegenheit dazu zu geben. Wir ſahn beide nicht, daß die Behutſamkeit, die wir in unſern Reden und in unſern Handlungen beob- achteten, nichts als die ſtaͤrkſte Liebe war; oder beſſer, wir fuͤhlten die Liebe ſo ſehr, daß wir ge- noͤthiget wurden, uns ſtrenge Geſetze vorzuſchrei- ben. Jch ahmte ihm nach, und er ahmte an Beſcheidenheit mir nach; und was war dieſer Zwang anders, als die Sorge, einander zu ge- fallen, und die Ungewißheit, wie wir dieſes ein- ander ohne Fehler zu erkennen geben wollten? Al- le Augenblicke erwartete ich ein vertrauliches Be- kenntniß von ihm, und hinderte ihn doch durch mein Bezeigen daran, und befriedigte meinen Verdruß mit neuer Hoffnung. Wir hatten uns durch einen Umgang von zehn oder zwoͤlf Ta- gen ſo ausgeredet, daß wir faſt nichts mehr wuß- ten, und wir wurden deſto aͤrmer| an Geſpraͤ- chen, ie weniger wir unſer Herz wollten reden laſſen. Wir ſpielten gemeiniglich nach der Tafel Schach

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Zitationshilfe: [Gellert, Christian Fürchtegott]: Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G**. Bd. 2. Leipzig, 1748, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gellert_leben02_1748/107>, abgerufen am 24.11.2024.