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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798.

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Wahlanziehungen angestellt wären. Aber wie viel giebt es wohl dergleichen? Wie schwer ist es, die einfachen Stoffe in ihrer höchsten Reinigkeit zu erhalten? Und wenn man auch diese Absicht aufs vollkommenste erreicht hätte, so wirken dennoch bey jedem Versuche Wärmestof, Phlogiston, Luft, Wasser unvermeidlich mit, so daß man statt der drey Stoffe, die die einfache Wahlanziehung erfordert, deren allemal mehrere hat, welche die Substanzen mehr oder weniger verändern, und versteckter Weise eine doppelte, oder wohl noch mehr complicirte, Wahlanziehung hervorbringen. So treibt z. B. die Salpetersäure den Salzgeist aus dem Kochsalze; dagegen treibt aber auch die gemeine Salzsäure (welche sehr stark phlogistisirt ist) die Salpetersäure aus dem cubischen Salpeter. Darum darf man aber die Verwandtschaft des Mineralalkali gegen Salpetersäure und Salzsäure nicht schwankend nennen. Dieses Alkali ist allerdings mit der reinen Salpetersäure stärker, als mit der Salzsäure, verwandt; kömmt aber Phlogiston hinzu, so ist die Verwandtschaft zwischen diesem und der Salpetersäure noch stärker.

Aehnliche Ausnahmen entsteheu aus den verschiedenen Graden der Auflöslichkeit und Zersetzbarkeit der Substanzen, und aus ihrer verschiedenen Fähigkeit, sich mit andern übersättigen zu lassen. Ein Beyspiel eines solchen Räthsels in der Verwandtschastslehre, das Bergmann hieraus sehr glücklich erklärt hat, ist beym Worte Salpetersäure (Th. III. S. 763.) erwähnt worden.

Wenn sich durch diese Betrachtungen auf einer Seite die Absicht rechtfertiget, bestimmte und unveränderliche Verwandtschaftsgesetze aufzusuchen, so erhellet daraus auch anderer Seits, welch ein unendlich schweres Geschäft es sey, zuverläßige Tafeln darüber zu verfertigen. Bergmann, welcher die weitläuftigste und beste Tafel in 50 Columnen geliefert, und dabey die Verwandtschaften jedes Stofs auf dem nassen und trocknen Wege besonders angezeigt hat, erinnert, daß zu diesen Bestimmungen mehr als 3000 sorgfältige Versuche nöthig gewesen sind. Ueberdies schränken sich alle bisherige Tafeln blos auf die Ordnung oder Stufenfolge


Wahlanziehungen angeſtellt waͤren. Aber wie viel giebt es wohl dergleichen? Wie ſchwer iſt es, die einfachen Stoffe in ihrer hoͤchſten Reinigkeit zu erhalten? Und wenn man auch dieſe Abſicht aufs vollkommenſte erreicht haͤtte, ſo wirken dennoch bey jedem Verſuche Waͤrmeſtof, Phlogiſton, Luft, Waſſer unvermeidlich mit, ſo daß man ſtatt der drey Stoffe, die die einfache Wahlanziehung erfordert, deren allemal mehrere hat, welche die Subſtanzen mehr oder weniger veraͤndern, und verſteckter Weiſe eine doppelte, oder wohl noch mehr complicirte, Wahlanziehung hervorbringen. So treibt z. B. die Salpeterſaͤure den Salzgeiſt aus dem Kochſalze; dagegen treibt aber auch die gemeine Salzſaͤure (welche ſehr ſtark phlogiſtiſirt iſt) die Salpeterſaͤure aus dem cubiſchen Salpeter. Darum darf man aber die Verwandtſchaft des Mineralalkali gegen Salpeterſaͤure und Salzſaͤure nicht ſchwankend nennen. Dieſes Alkali iſt allerdings mit der reinen Salpeterſaͤure ſtaͤrker, als mit der Salzſaͤure, verwandt; koͤmmt aber Phlogiſton hinzu, ſo iſt die Verwandtſchaft zwiſchen dieſem und der Salpeterſaͤure noch ſtaͤrker.

Aehnliche Ausnahmen entſteheu aus den verſchiedenen Graden der Aufloͤslichkeit und Zerſetzbarkeit der Subſtanzen, und aus ihrer verſchiedenen Faͤhigkeit, ſich mit andern uͤberſaͤttigen zu laſſen. Ein Beyſpiel eines ſolchen Raͤthſels in der Verwandtſchaſtslehre, das Bergmann hieraus ſehr gluͤcklich erklaͤrt hat, iſt beym Worte Salpeterſaͤure (Th. III. S. 763.) erwaͤhnt worden.

Wenn ſich durch dieſe Betrachtungen auf einer Seite die Abſicht rechtfertiget, beſtimmte und unveraͤnderliche Verwandtſchaftsgeſetze aufzuſuchen, ſo erhellet daraus auch anderer Seits, welch ein unendlich ſchweres Geſchaͤft es ſey, zuverlaͤßige Tafeln daruͤber zu verfertigen. Bergmann, welcher die weitlaͤuftigſte und beſte Tafel in 50 Columnen geliefert, und dabey die Verwandtſchaften jedes Stofs auf dem naſſen und trocknen Wege beſonders angezeigt hat, erinnert, daß zu dieſen Beſtimmungen mehr als 3000 ſorgfaͤltige Verſuche noͤthig geweſen ſind. Ueberdies ſchraͤnken ſich alle bisherige Tafeln blos auf die Ordnung oder Stufenfolge

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[480/0490] Wahlanziehungen angeſtellt waͤren. Aber wie viel giebt es wohl dergleichen? Wie ſchwer iſt es, die einfachen Stoffe in ihrer hoͤchſten Reinigkeit zu erhalten? Und wenn man auch dieſe Abſicht aufs vollkommenſte erreicht haͤtte, ſo wirken dennoch bey jedem Verſuche Waͤrmeſtof, Phlogiſton, Luft, Waſſer unvermeidlich mit, ſo daß man ſtatt der drey Stoffe, die die einfache Wahlanziehung erfordert, deren allemal mehrere hat, welche die Subſtanzen mehr oder weniger veraͤndern, und verſteckter Weiſe eine doppelte, oder wohl noch mehr complicirte, Wahlanziehung hervorbringen. So treibt z. B. die Salpeterſaͤure den Salzgeiſt aus dem Kochſalze; dagegen treibt aber auch die gemeine Salzſaͤure (welche ſehr ſtark phlogiſtiſirt iſt) die Salpeterſaͤure aus dem cubiſchen Salpeter. Darum darf man aber die Verwandtſchaft des Mineralalkali gegen Salpeterſaͤure und Salzſaͤure nicht ſchwankend nennen. Dieſes Alkali iſt allerdings mit der reinen Salpeterſaͤure ſtaͤrker, als mit der Salzſaͤure, verwandt; koͤmmt aber Phlogiſton hinzu, ſo iſt die Verwandtſchaft zwiſchen dieſem und der Salpeterſaͤure noch ſtaͤrker. Aehnliche Ausnahmen entſteheu aus den verſchiedenen Graden der Aufloͤslichkeit und Zerſetzbarkeit der Subſtanzen, und aus ihrer verſchiedenen Faͤhigkeit, ſich mit andern uͤberſaͤttigen zu laſſen. Ein Beyſpiel eines ſolchen Raͤthſels in der Verwandtſchaſtslehre, das Bergmann hieraus ſehr gluͤcklich erklaͤrt hat, iſt beym Worte Salpeterſaͤure (Th. III. S. 763.) erwaͤhnt worden. Wenn ſich durch dieſe Betrachtungen auf einer Seite die Abſicht rechtfertiget, beſtimmte und unveraͤnderliche Verwandtſchaftsgeſetze aufzuſuchen, ſo erhellet daraus auch anderer Seits, welch ein unendlich ſchweres Geſchaͤft es ſey, zuverlaͤßige Tafeln daruͤber zu verfertigen. Bergmann, welcher die weitlaͤuftigſte und beſte Tafel in 50 Columnen geliefert, und dabey die Verwandtſchaften jedes Stofs auf dem naſſen und trocknen Wege beſonders angezeigt hat, erinnert, daß zu dieſen Beſtimmungen mehr als 3000 ſorgfaͤltige Verſuche noͤthig geweſen ſind. Ueberdies ſchraͤnken ſich alle bisherige Tafeln blos auf die Ordnung oder Stufenfolge

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Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798, S. 480. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch04_1798/490>, abgerufen am 22.11.2024.