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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 3. Leipzig, 1798.

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So lang sich noch Ursachen der Erscheinungen angeben lassen, sind diese immer selbst wieder Erscheinungen, und so geht die Reihe bis zu einem gewissen allgemeinen Phänomen fort, dessen Ursache nicht mehr bekannt ist. Diese allgemeinen Phänomene oder generalisirten Erfahrungen sind die Naturgesetze. Mithin bestehen die physikalischen Erklärungen eigentlich darinn, daß man die Phänomene aus den Naturgesetzen herleitet, unter welchen sie als einzelne Fälle enthalten sind, oder daß man verwickelte Erscheinungen aus den mehrern Naturgesetzen begreiflich macht, aus deren Verbindung sie herkommen. Enthält man sich hiebey aller Speculation über die Naturgesetze selbst, welche nur Erfahrungssätze sind, und über die weitern Ursachen der Dinge nichts lehren sollen, so entsteht hieraus eine ziemlich sichere und richtige Kenntniß der Natur, die sich ganz auf Erfahrung und Induction gründet, so wie wir sie seit Bacons und Newtons Zeiten haben. Sie ist zwar von eingeschränkterm Umfange, als die alles erklärende Physik der Alten und des Descartes, und hält sich in einer bescheidnern Entfernung von der ersten Ursache der Welt; allein sie ist in dieser engern Sphäre unendlich reichhaltiger an Wahrheit und nützlicher Belehrung.

Es wird nicht überflüßig feyn, diesen Bemerkungen die vortreflichen Regeln beyzufügen, welche Newton (Philos. natur. principia. Lib. III.) für die Erklärungen der Phänomene aus den Ursachen vorschreibt. Jch übersetze die ganze Stelle wörtlich.

1) "Man muß nicht mehr Ursachen zulassen, als durch Erfahrung erwiesen, und zur Erklärung der Phänomene nöthig sind. Die Natur thut nichts vergeblich: es wäre aber vergeblich, durch mehr Ursachen zu bewirken, was durch eine erreicht werden kan. Die Natur ist einfach, und verschwendet nichts überflüßig.

2) Also müssen gleichartige Wirkungen, so viel möglich, einerley Ursache zug<*>schrieben werden, z. B. das Athmen beym Menschen und bey Thieren, der Fall schwerer Körper in Europa und in Amerika, das Licht beym Küchenfeuer und bey der Sonne, die Zurückwerfung


So lang ſich noch Urſachen der Erſcheinungen angeben laſſen, ſind dieſe immer ſelbſt wieder Erſcheinungen, und ſo geht die Reihe bis zu einem gewiſſen allgemeinen Phaͤnomen fort, deſſen Urſache nicht mehr bekannt iſt. Dieſe allgemeinen Phaͤnomene oder generaliſirten Erfahrungen ſind die Naturgeſetze. Mithin beſtehen die phyſikaliſchen Erklaͤrungen eigentlich darinn, daß man die Phaͤnomene aus den Naturgeſetzen herleitet, unter welchen ſie als einzelne Faͤlle enthalten ſind, oder daß man verwickelte Erſcheinungen aus den mehrern Naturgeſetzen begreiflich macht, aus deren Verbindung ſie herkommen. Enthaͤlt man ſich hiebey aller Speculation uͤber die Naturgeſetze ſelbſt, welche nur Erfahrungsſaͤtze ſind, und uͤber die weitern Urſachen der Dinge nichts lehren ſollen, ſo entſteht hieraus eine ziemlich ſichere und richtige Kenntniß der Natur, die ſich ganz auf Erfahrung und Induction gruͤndet, ſo wie wir ſie ſeit Bacons und Newtons Zeiten haben. Sie iſt zwar von eingeſchraͤnkterm Umfange, als die alles erklaͤrende Phyſik der Alten und des Descartes, und haͤlt ſich in einer beſcheidnern Entfernung von der erſten Urſache der Welt; allein ſie iſt in dieſer engern Sphaͤre unendlich reichhaltiger an Wahrheit und nuͤtzlicher Belehrung.

Es wird nicht uͤberfluͤßig feyn, dieſen Bemerkungen die vortreflichen Regeln beyzufuͤgen, welche Newton (Philoſ. natur. principia. Lib. III.) fuͤr die Erklaͤrungen der Phaͤnomene aus den Urſachen vorſchreibt. Jch uͤberſetze die ganze Stelle woͤrtlich.

1) ”Man muß nicht mehr Urſachen zulaſſen, als durch Erfahrung erwieſen, und zur Erklaͤrung der Phaͤnomene noͤthig ſind. Die Natur thut nichts vergeblich: es waͤre aber vergeblich, durch mehr Urſachen zu bewirken, was durch eine erreicht werden kan. Die Natur iſt einfach, und verſchwendet nichts uͤberfluͤßig.

2) Alſo muͤſſen gleichartige Wirkungen, ſo viel moͤglich, einerley Urſache zug<*>ſchrieben werden, z. B. das Athmen beym Menſchen und bey Thieren, der Fall ſchwerer Koͤrper in Europa und in Amerika, das Licht beym Kuͤchenfeuer und bey der Sonne, die Zuruͤckwerfung

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[457/0463] So lang ſich noch Urſachen der Erſcheinungen angeben laſſen, ſind dieſe immer ſelbſt wieder Erſcheinungen, und ſo geht die Reihe bis zu einem gewiſſen allgemeinen Phaͤnomen fort, deſſen Urſache nicht mehr bekannt iſt. Dieſe allgemeinen Phaͤnomene oder generaliſirten Erfahrungen ſind die Naturgeſetze. Mithin beſtehen die phyſikaliſchen Erklaͤrungen eigentlich darinn, daß man die Phaͤnomene aus den Naturgeſetzen herleitet, unter welchen ſie als einzelne Faͤlle enthalten ſind, oder daß man verwickelte Erſcheinungen aus den mehrern Naturgeſetzen begreiflich macht, aus deren Verbindung ſie herkommen. Enthaͤlt man ſich hiebey aller Speculation uͤber die Naturgeſetze ſelbſt, welche nur Erfahrungsſaͤtze ſind, und uͤber die weitern Urſachen der Dinge nichts lehren ſollen, ſo entſteht hieraus eine ziemlich ſichere und richtige Kenntniß der Natur, die ſich ganz auf Erfahrung und Induction gruͤndet, ſo wie wir ſie ſeit Bacons und Newtons Zeiten haben. Sie iſt zwar von eingeſchraͤnkterm Umfange, als die alles erklaͤrende Phyſik der Alten und des Descartes, und haͤlt ſich in einer beſcheidnern Entfernung von der erſten Urſache der Welt; allein ſie iſt in dieſer engern Sphaͤre unendlich reichhaltiger an Wahrheit und nuͤtzlicher Belehrung. Es wird nicht uͤberfluͤßig feyn, dieſen Bemerkungen die vortreflichen Regeln beyzufuͤgen, welche Newton (Philoſ. natur. principia. Lib. III.) fuͤr die Erklaͤrungen der Phaͤnomene aus den Urſachen vorſchreibt. Jch uͤberſetze die ganze Stelle woͤrtlich. 1) ”Man muß nicht mehr Urſachen zulaſſen, als durch Erfahrung erwieſen, und zur Erklaͤrung der Phaͤnomene noͤthig ſind. Die Natur thut nichts vergeblich: es waͤre aber vergeblich, durch mehr Urſachen zu bewirken, was durch eine erreicht werden kan. Die Natur iſt einfach, und verſchwendet nichts uͤberfluͤßig. 2) Alſo muͤſſen gleichartige Wirkungen, ſo viel moͤglich, einerley Urſache zug<*>ſchrieben werden, z. B. das Athmen beym Menſchen und bey Thieren, der Fall ſchwerer Koͤrper in Europa und in Amerika, das Licht beym Kuͤchenfeuer und bey der Sonne, die Zuruͤckwerfung

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Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 3. Leipzig, 1798, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch03_1798/463>, abgerufen am 20.07.2024.