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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1798.

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Aufklärung der hiebey vorkommenden Mißverständnisse gesagt worden ist. Ich will nur noch bemerken, daß hiebey von körperlicher Größe die Rede nie seyn kan, weil wir von allen Dingen nur die Oberfläche sehen und selbst diese nur nach Länge und Breite, d. i. nach Linien messen, daher es eine leere Prahlerey ist, wenn Künstler von ihren Mikros kopen u. dgl. sagen, daß sie dem körperlichen Raume nach 1000000mal vergrößern. Es war genug, zu sagen, daß die Vergrößerung dem Durchmesser nach 100fach sey.

Scheinbare Größe einer Linie ist scheinbare Entfernung ihrer Endpunkte, oder (nach Th. I. S. 838) der Winkel, welchen die aus beyden Enden kommenden Lichtstralen am Auge mit elnander bilden. So ist die scheinbare Größe der Linie ST (Taf. VII. Fig. 129.) der optische Winkel SOT, unter welchem der wahre Abstand der Punkte S und T von einander, ins Auge fällt. Bleibt man bey dieser reinen optischen Darstellung stehen, ohne auf das Urtheil zu sehen, welches die Seele darüber fällt, so hat man in allen Fällen etwas bestimmtes, woran man sich halten kan, ohne daß sich falsche Urtheile, d. i. Gesichtsbetrüge, einmischen. So muß sich Jeder, der bestimmt sprechen will, über scheinbare Größe ausdrücken. Er muß sie durch einen Winkel angeben, und durch geometrische oder astronomische Werkzeuge, wie alle andere Winkel, abmessen. Alsdann werden ihm Sonne und Mond am Horizonte sowohl, als im Scheitel, 31 Min. im Durchmesser halten; Iupiters Durchmesser wird, wenn er am größten ist, durch ein 20mal vergrößerndes Fernrohr 16 Min. groß scheinen u. s. w., und Verschiedenheiten hierinn werden wahre Unterschiede der scheinbaren Größen, ohne eingemischte Gesichtsbetrüge, anzeigen.

Weil wir uns aber durch lange Uebung eine Fertigkeit erworben haben, über das Gesehene zu urtheilen, und weil sich diese Fertigkeit so innig mit dem Sehen selbst vereiniget, daß wir die reine optische Darstellung gar nicht mehr von dem darüber gefällten Urtheile zu unterscheiden wissen; so werden wir auch nie die scheinbare Größe eines Dinges


Aufklaͤrung der hiebey vorkommenden Mißverſtaͤndniſſe geſagt worden iſt. Ich will nur noch bemerken, daß hiebey von koͤrperlicher Groͤße die Rede nie ſeyn kan, weil wir von allen Dingen nur die Oberflaͤche ſehen und ſelbſt dieſe nur nach Laͤnge und Breite, d. i. nach Linien meſſen, daher es eine leere Prahlerey iſt, wenn Kuͤnſtler von ihren Mikroſ kopen u. dgl. ſagen, daß ſie dem koͤrperlichen Raume nach 1000000mal vergroͤßern. Es war genug, zu ſagen, daß die Vergroͤßerung dem Durchmeſſer nach 100fach ſey.

Scheinbare Groͤße einer Linie iſt ſcheinbare Entfernung ihrer Endpunkte, oder (nach Th. I. S. 838) der Winkel, welchen die aus beyden Enden kommenden Lichtſtralen am Auge mit elnander bilden. So iſt die ſcheinbare Groͤße der Linie ST (Taf. VII. Fig. 129.) der optiſche Winkel SOT, unter welchem der wahre Abſtand der Punkte S und T von einander, ins Auge faͤllt. Bleibt man bey dieſer reinen optiſchen Darſtellung ſtehen, ohne auf das Urtheil zu ſehen, welches die Seele daruͤber faͤllt, ſo hat man in allen Faͤllen etwas beſtimmtes, woran man ſich halten kan, ohne daß ſich falſche Urtheile, d. i. Geſichtsbetruͤge, einmiſchen. So muß ſich Jeder, der beſtimmt ſprechen will, uͤber ſcheinbare Groͤße ausdruͤcken. Er muß ſie durch einen Winkel angeben, und durch geometriſche oder aſtronomiſche Werkzeuge, wie alle andere Winkel, abmeſſen. Alsdann werden ihm Sonne und Mond am Horizonte ſowohl, als im Scheitel, 31 Min. im Durchmeſſer halten; Iupiters Durchmeſſer wird, wenn er am groͤßten iſt, durch ein 20mal vergroͤßerndes Fernrohr 16 Min. groß ſcheinen u. ſ. w., und Verſchiedenheiten hierinn werden wahre Unterſchiede der ſcheinbaren Groͤßen, ohne eingemiſchte Geſichtsbetruͤge, anzeigen.

Weil wir uns aber durch lange Uebung eine Fertigkeit erworben haben, uͤber das Geſehene zu urtheilen, und weil ſich dieſe Fertigkeit ſo innig mit dem Sehen ſelbſt vereiniget, daß wir die reine optiſche Darſtellung gar nicht mehr von dem daruͤber gefaͤllten Urtheile zu unterſcheiden wiſſen; ſo werden wir auch nie die ſcheinbare Groͤße eines Dinges

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[538/0544] Aufklaͤrung der hiebey vorkommenden Mißverſtaͤndniſſe geſagt worden iſt. Ich will nur noch bemerken, daß hiebey von koͤrperlicher Groͤße die Rede nie ſeyn kan, weil wir von allen Dingen nur die Oberflaͤche ſehen und ſelbſt dieſe nur nach Laͤnge und Breite, d. i. nach Linien meſſen, daher es eine leere Prahlerey iſt, wenn Kuͤnſtler von ihren Mikroſ kopen u. dgl. ſagen, daß ſie dem koͤrperlichen Raume nach 1000000mal vergroͤßern. Es war genug, zu ſagen, daß die Vergroͤßerung dem Durchmeſſer nach 100fach ſey. Scheinbare Groͤße einer Linie iſt ſcheinbare Entfernung ihrer Endpunkte, oder (nach Th. I. S. 838) der Winkel, welchen die aus beyden Enden kommenden Lichtſtralen am Auge mit elnander bilden. So iſt die ſcheinbare Groͤße der Linie ST (Taf. VII. Fig. 129.) der optiſche Winkel SOT, unter welchem der wahre Abſtand der Punkte S und T von einander, ins Auge faͤllt. Bleibt man bey dieſer reinen optiſchen Darſtellung ſtehen, ohne auf das Urtheil zu ſehen, welches die Seele daruͤber faͤllt, ſo hat man in allen Faͤllen etwas beſtimmtes, woran man ſich halten kan, ohne daß ſich falſche Urtheile, d. i. Geſichtsbetruͤge, einmiſchen. So muß ſich Jeder, der beſtimmt ſprechen will, uͤber ſcheinbare Groͤße ausdruͤcken. Er muß ſie durch einen Winkel angeben, und durch geometriſche oder aſtronomiſche Werkzeuge, wie alle andere Winkel, abmeſſen. Alsdann werden ihm Sonne und Mond am Horizonte ſowohl, als im Scheitel, 31 Min. im Durchmeſſer halten; Iupiters Durchmeſſer wird, wenn er am groͤßten iſt, durch ein 20mal vergroͤßerndes Fernrohr 16 Min. groß ſcheinen u. ſ. w., und Verſchiedenheiten hierinn werden wahre Unterſchiede der ſcheinbaren Groͤßen, ohne eingemiſchte Geſichtsbetruͤge, anzeigen. Weil wir uns aber durch lange Uebung eine Fertigkeit erworben haben, uͤber das Geſehene zu urtheilen, und weil ſich dieſe Fertigkeit ſo innig mit dem Sehen ſelbſt vereiniget, daß wir die reine optiſche Darſtellung gar nicht mehr von dem daruͤber gefaͤllten Urtheile zu unterſcheiden wiſſen; ſo werden wir auch nie die ſcheinbare Groͤße eines Dinges

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Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1798, S. 538. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch02_1798/544>, abgerufen am 01.09.2024.