keine Belehrung über diese Entfernung geben kan. Hiebey läßt sich auch an keinen optischen Winkel denken, weil die Rede nur von einem einzigen Gegenstande ist, und es kömmt also diese scheinbare Entfernung lediglich auf Urtheil oder Schätzung an.
Der von Cheselden am Stahr operirte Blindgebohrne (Philos. Trans. no. 402. und Smith's Lehrbegrif der Optik, durch Kästner, S. 40.) wußte beym ersten Sehen so wenig von den Entfernungen zu urtheilen, daß er sich einbildete, alle Sachen, die er sähe, berührten seine Augen, wie das, was er fühlte, seine Haut. Man sieht hieraus, daß der Mensch sehen lernen, oder vielmehr über das Gesehene urtheilen lernen müsse, indem er die Empfindungen des Gesichts mit denen des Gefühls vergleicht, und so erst durch fortgesetzte Erfahrungen in Stand gesetzt wird, aus dem Anblicke der Dinge auf ihre Stellen, Gestalten, Größen, Entfernungen u. s. w. zu schließen. Wir lernen dies in den ersten Jahren der Kindheit und frühsten Jugend, fast eben so, wie die Sprache; denn das Auge stellt uns die Dinge nicht durch Bilder dar, die mit ihnen wesentliche Aehnlichkeit oder Identität haben, sondern es giebt uns Zeichen, deren Bedeutungen wir erst durch Erfahrung und Gewohnheit kennen lernen. Durch diese Uebungen entsteht in uns auf Lebenszeit eine Fertigkeit, welche man das Augenmaaß nennt, vermöge welcher wir nach gewissen Regeln und aus mancherley zusammengenommenen Umständen, von dem, was wir sehen, sehr schnell auf die Stellen, Größen und Entfernungen der Dinge schließen.
Demnach ist scheinbare Entfernung einer Sache von uns, in sofern wir solche durch das Gesicht zu empfinden glauben, nichts anders, als die Vorstellung einer wirklichen Entfernung, die in uns vermöge des Augenmaaßes, nach gewissen gewohnten Regeln, aus mancherley zusammengenommenen Umständen entsteht.
Wir sind uns dieser Umstände, welche in das Urtheil über die Entfernung der Dinge von uns Einfluß haben, selten deutlich bewußt. Es ist auch gewiß, daß bey dieser
keine Belehrung uͤber dieſe Entfernung geben kan. Hiebey laͤßt ſich auch an keinen optiſchen Winkel denken, weil die Rede nur von einem einzigen Gegenſtande iſt, und es koͤmmt alſo dieſe ſcheinbare Entfernung lediglich auf Urtheil oder Schaͤtzung an.
Der von Cheſelden am Stahr operirte Blindgebohrne (Philoſ. Trans. no. 402. und Smith's Lehrbegrif der Optik, durch Kaͤſtner, S. 40.) wußte beym erſten Sehen ſo wenig von den Entfernungen zu urtheilen, daß er ſich einbildete, alle Sachen, die er ſaͤhe, beruͤhrten ſeine Augen, wie das, was er fuͤhlte, ſeine Haut. Man ſieht hieraus, daß der Menſch ſehen lernen, oder vielmehr uͤber das Geſehene urtheilen lernen muͤſſe, indem er die Empfindungen des Geſichts mit denen des Gefuͤhls vergleicht, und ſo erſt durch fortgeſetzte Erfahrungen in Stand geſetzt wird, aus dem Anblicke der Dinge auf ihre Stellen, Geſtalten, Groͤßen, Entfernungen u. ſ. w. zu ſchließen. Wir lernen dies in den erſten Jahren der Kindheit und fruͤhſten Jugend, faſt eben ſo, wie die Sprache; denn das Auge ſtellt uns die Dinge nicht durch Bilder dar, die mit ihnen weſentliche Aehnlichkeit oder Identitaͤt haben, ſondern es giebt uns Zeichen, deren Bedeutungen wir erſt durch Erfahrung und Gewohnheit kennen lernen. Durch dieſe Uebungen entſteht in uns auf Lebenszeit eine Fertigkeit, welche man das Augenmaaß nennt, vermoͤge welcher wir nach gewiſſen Regeln und aus mancherley zuſammengenommenen Umſtaͤnden, von dem, was wir ſehen, ſehr ſchnell auf die Stellen, Groͤßen und Entfernungen der Dinge ſchließen.
Demnach iſt ſcheinbare Entfernung einer Sache von uns, in ſofern wir ſolche durch das Geſicht zu empfinden glauben, nichts anders, als die Vorſtellung einer wirklichen Entfernung, die in uns vermoͤge des Augenmaaßes, nach gewiſſen gewohnten Regeln, aus mancherley zuſammengenommenen Umſtaͤnden entſteht.
Wir ſind uns dieſer Umſtaͤnde, welche in das Urtheil uͤber die Entfernung der Dinge von uns Einfluß haben, ſelten deutlich bewußt. Es iſt auch gewiß, daß bey dieſer
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0855"xml:id="P.1.841"n="841"/><lb/>
keine Belehrung uͤber dieſe Entfernung geben kan. Hiebey laͤßt ſich auch an keinen optiſchen Winkel denken, weil die Rede nur von einem einzigen Gegenſtande iſt, und es koͤmmt alſo dieſe ſcheinbare Entfernung lediglich auf Urtheil oder Schaͤtzung an.</p><p>Der von <hirendition="#b">Cheſelden</hi> am Stahr operirte Blindgebohrne <hirendition="#aq">(Philoſ. Trans. no. 402.</hi> und Smith's Lehrbegrif der Optik, durch Kaͤſtner, S. 40.) wußte beym erſten Sehen ſo wenig von den <hirendition="#b">Entfernungen</hi> zu urtheilen, daß er ſich einbildete, alle Sachen, die er ſaͤhe, beruͤhrten ſeine Augen, wie das, was er fuͤhlte, ſeine Haut. Man ſieht hieraus, daß der Menſch ſehen <hirendition="#b">lernen,</hi> oder vielmehr uͤber das Geſehene urtheilen <hirendition="#b">lernen</hi> muͤſſe, indem er die Empfindungen des Geſichts mit denen des Gefuͤhls vergleicht, und ſo erſt durch fortgeſetzte Erfahrungen in Stand geſetzt wird, aus dem Anblicke der Dinge auf ihre Stellen, Geſtalten, Groͤßen, Entfernungen u. ſ. w. zu ſchließen. Wir lernen dies in den erſten Jahren der Kindheit und fruͤhſten Jugend, faſt eben ſo, wie die Sprache; denn das Auge ſtellt uns die Dinge nicht durch Bilder dar, die mit ihnen weſentliche Aehnlichkeit oder Identitaͤt haben, ſondern es giebt uns Zeichen, deren Bedeutungen wir erſt durch Erfahrung und Gewohnheit kennen lernen. Durch dieſe Uebungen entſteht in uns auf Lebenszeit eine Fertigkeit, welche man das <hirendition="#b">Augenmaaß</hi> nennt, vermoͤge welcher wir nach gewiſſen Regeln und aus mancherley zuſammengenommenen Umſtaͤnden, von dem, was wir ſehen, ſehr ſchnell auf die Stellen, Groͤßen und Entfernungen der Dinge ſchließen.</p><p>Demnach iſt <hirendition="#b">ſcheinbare Entfernung</hi> einer Sache von uns, in ſofern wir ſolche durch das Geſicht zu empfinden glauben, nichts anders, als die Vorſtellung einer wirklichen Entfernung, die in uns vermoͤge des Augenmaaßes, nach gewiſſen gewohnten Regeln, aus mancherley zuſammengenommenen Umſtaͤnden entſteht.</p><p>Wir ſind uns dieſer Umſtaͤnde, welche in das Urtheil uͤber die Entfernung der Dinge von uns Einfluß haben, ſelten deutlich bewußt. Es iſt auch gewiß, daß bey dieſer<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[841/0855]
keine Belehrung uͤber dieſe Entfernung geben kan. Hiebey laͤßt ſich auch an keinen optiſchen Winkel denken, weil die Rede nur von einem einzigen Gegenſtande iſt, und es koͤmmt alſo dieſe ſcheinbare Entfernung lediglich auf Urtheil oder Schaͤtzung an.
Der von Cheſelden am Stahr operirte Blindgebohrne (Philoſ. Trans. no. 402. und Smith's Lehrbegrif der Optik, durch Kaͤſtner, S. 40.) wußte beym erſten Sehen ſo wenig von den Entfernungen zu urtheilen, daß er ſich einbildete, alle Sachen, die er ſaͤhe, beruͤhrten ſeine Augen, wie das, was er fuͤhlte, ſeine Haut. Man ſieht hieraus, daß der Menſch ſehen lernen, oder vielmehr uͤber das Geſehene urtheilen lernen muͤſſe, indem er die Empfindungen des Geſichts mit denen des Gefuͤhls vergleicht, und ſo erſt durch fortgeſetzte Erfahrungen in Stand geſetzt wird, aus dem Anblicke der Dinge auf ihre Stellen, Geſtalten, Groͤßen, Entfernungen u. ſ. w. zu ſchließen. Wir lernen dies in den erſten Jahren der Kindheit und fruͤhſten Jugend, faſt eben ſo, wie die Sprache; denn das Auge ſtellt uns die Dinge nicht durch Bilder dar, die mit ihnen weſentliche Aehnlichkeit oder Identitaͤt haben, ſondern es giebt uns Zeichen, deren Bedeutungen wir erſt durch Erfahrung und Gewohnheit kennen lernen. Durch dieſe Uebungen entſteht in uns auf Lebenszeit eine Fertigkeit, welche man das Augenmaaß nennt, vermoͤge welcher wir nach gewiſſen Regeln und aus mancherley zuſammengenommenen Umſtaͤnden, von dem, was wir ſehen, ſehr ſchnell auf die Stellen, Groͤßen und Entfernungen der Dinge ſchließen.
Demnach iſt ſcheinbare Entfernung einer Sache von uns, in ſofern wir ſolche durch das Geſicht zu empfinden glauben, nichts anders, als die Vorſtellung einer wirklichen Entfernung, die in uns vermoͤge des Augenmaaßes, nach gewiſſen gewohnten Regeln, aus mancherley zuſammengenommenen Umſtaͤnden entſteht.
Wir ſind uns dieſer Umſtaͤnde, welche in das Urtheil uͤber die Entfernung der Dinge von uns Einfluß haben, ſelten deutlich bewußt. Es iſt auch gewiß, daß bey dieſer
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte : Bereitstellung der Texttranskription.
(2015-09-02T12:13:09Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2015-09-02T12:13:09Z)
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: keine Angabe;
Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): keine Angabe;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: keine Angabe;
Kustoden: keine Angabe;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine Angabe;
rundes r (ꝛ): keine Angabe;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: aufgelöst;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: keine Angabe;
Zeichensetzung: keine Angabe;
Zeilenumbrüche markiert: nein;
Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1798, S. 841. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch01_1798/855>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.