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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1798.

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zu legen. Man kan diese Eigenschaft an den gefrornen Fensterscheiben, und überall, wo Eis in dünnen Blättern entsteht, gar nicht verkennen, wenn man eine nach dem Winkel von 60° ausgeschnittene Pappe auf die Winkel der Eisfiguren legt. Auch in runden Gefäßen machen die entstehenden Eisfäden mit den Wänden der Gefäße eben diesen Winkel. Eis von laugenartigen oder urinösen Materien giebt ihn am beständigsten und deutlichsten. Hiemit scheinen offenbar auch die sechseckigten Schneefiguren in Verbindung zu stehen, s. Schnee. Aus diesem Bestreben nun, welches durch die Erfahrung hinlänglich dargethan ist, folgt eine Ausbreitung oder Anschwellung des gefrierenden Wassers darum, weil längliche Theile oder kleine Fäden, die sich unter irgend einem Winkel an einander hängen, nothwendig Ausdehnung nach der Gegend, nach welcher ein Schenkel dieses Winkels vom andern ab liegt, verursachen müssen. Diese Ursache hält Mairan für die stärkste unter allen angegebnen, und setzt hinzu, in großen Wassermassen würde sie durch die Nähe der Theilchen an einander sehr eingeschränkt; im Schnee hingegen wirke sie mit voller Freyheit, und sey daher auch der Grund der großen Lockerkeit des Schnees, der oft mehr als 12mal so viel Raum einnimmt, als das Wasser, in das er zerfließt.

Die alte Meinung, daß abgesottenes Wasser eher, als ungekochtes, gefriere, hat sich nach Mariotte's, Perraults und Mairans Versuchen nicht bestätiget. Plinius (Hist. nat. L. XXXI. c. 3.) führt an, daß sich Nero des abgekochten Wassers (decoctum Neronis) bedient habe, um es in einem mit Schnee umlegten Gefäße kälter zu machen, als Wasser sonst gewöhnlich werde, wobey es doch nichts von der vermeinten Schädlichkeit des Schnees an sich genommen habe. Es ist aber hierinn zwischen gekochtem und ungekochtem Wasser gar kein Unterschied.

Eben so falsch ist das alte sehr gemeine Vorurtheil, daß das Eis in den Flüssen auf dem Grunde entstehe, und erst in der Folge unter der Gestalt der großen Schollen, die man Grundeis nennt, in die Höhe komme. Es ist


zu legen. Man kan dieſe Eigenſchaft an den gefrornen Fenſterſcheiben, und uͤberall, wo Eis in duͤnnen Blaͤttern entſteht, gar nicht verkennen, wenn man eine nach dem Winkel von 60° ausgeſchnittene Pappe auf die Winkel der Eisfiguren legt. Auch in runden Gefaͤßen machen die entſtehenden Eisfaͤden mit den Waͤnden der Gefaͤße eben dieſen Winkel. Eis von laugenartigen oder urinoͤſen Materien giebt ihn am beſtaͤndigſten und deutlichſten. Hiemit ſcheinen offenbar auch die ſechseckigten Schneefiguren in Verbindung zu ſtehen, ſ. Schnee. Aus dieſem Beſtreben nun, welches durch die Erfahrung hinlaͤnglich dargethan iſt, folgt eine Ausbreitung oder Anſchwellung des gefrierenden Waſſers darum, weil laͤngliche Theile oder kleine Faͤden, die ſich unter irgend einem Winkel an einander haͤngen, nothwendig Ausdehnung nach der Gegend, nach welcher ein Schenkel dieſes Winkels vom andern ab liegt, verurſachen muͤſſen. Dieſe Urſache haͤlt Mairan fuͤr die ſtaͤrkſte unter allen angegebnen, und ſetzt hinzu, in großen Waſſermaſſen wuͤrde ſie durch die Naͤhe der Theilchen an einander ſehr eingeſchraͤnkt; im Schnee hingegen wirke ſie mit voller Freyheit, und ſey daher auch der Grund der großen Lockerkeit des Schnees, der oft mehr als 12mal ſo viel Raum einnimmt, als das Waſſer, in das er zerfließt.

Die alte Meinung, daß abgeſottenes Waſſer eher, als ungekochtes, gefriere, hat ſich nach Mariotte's, Perraults und Mairans Verſuchen nicht beſtaͤtiget. Plinius (Hiſt. nat. L. XXXI. c. 3.) fuͤhrt an, daß ſich Nero des abgekochten Waſſers (decoctum Neronis) bedient habe, um es in einem mit Schnee umlegten Gefaͤße kaͤlter zu machen, als Waſſer ſonſt gewoͤhnlich werde, wobey es doch nichts von der vermeinten Schaͤdlichkeit des Schnees an ſich genommen habe. Es iſt aber hierinn zwiſchen gekochtem und ungekochtem Waſſer gar kein Unterſchied.

Eben ſo falſch iſt das alte ſehr gemeine Vorurtheil, daß das Eis in den Fluͤſſen auf dem Grunde entſtehe, und erſt in der Folge unter der Geſtalt der großen Schollen, die man Grundeis nennt, in die Hoͤhe komme. Es iſt

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[676/0690] zu legen. Man kan dieſe Eigenſchaft an den gefrornen Fenſterſcheiben, und uͤberall, wo Eis in duͤnnen Blaͤttern entſteht, gar nicht verkennen, wenn man eine nach dem Winkel von 60° ausgeſchnittene Pappe auf die Winkel der Eisfiguren legt. Auch in runden Gefaͤßen machen die entſtehenden Eisfaͤden mit den Waͤnden der Gefaͤße eben dieſen Winkel. Eis von laugenartigen oder urinoͤſen Materien giebt ihn am beſtaͤndigſten und deutlichſten. Hiemit ſcheinen offenbar auch die ſechseckigten Schneefiguren in Verbindung zu ſtehen, ſ. Schnee. Aus dieſem Beſtreben nun, welches durch die Erfahrung hinlaͤnglich dargethan iſt, folgt eine Ausbreitung oder Anſchwellung des gefrierenden Waſſers darum, weil laͤngliche Theile oder kleine Faͤden, die ſich unter irgend einem Winkel an einander haͤngen, nothwendig Ausdehnung nach der Gegend, nach welcher ein Schenkel dieſes Winkels vom andern ab liegt, verurſachen muͤſſen. Dieſe Urſache haͤlt Mairan fuͤr die ſtaͤrkſte unter allen angegebnen, und ſetzt hinzu, in großen Waſſermaſſen wuͤrde ſie durch die Naͤhe der Theilchen an einander ſehr eingeſchraͤnkt; im Schnee hingegen wirke ſie mit voller Freyheit, und ſey daher auch der Grund der großen Lockerkeit des Schnees, der oft mehr als 12mal ſo viel Raum einnimmt, als das Waſſer, in das er zerfließt. Die alte Meinung, daß abgeſottenes Waſſer eher, als ungekochtes, gefriere, hat ſich nach Mariotte's, Perraults und Mairans Verſuchen nicht beſtaͤtiget. Plinius (Hiſt. nat. L. XXXI. c. 3.) fuͤhrt an, daß ſich Nero des abgekochten Waſſers (decoctum Neronis) bedient habe, um es in einem mit Schnee umlegten Gefaͤße kaͤlter zu machen, als Waſſer ſonſt gewoͤhnlich werde, wobey es doch nichts von der vermeinten Schaͤdlichkeit des Schnees an ſich genommen habe. Es iſt aber hierinn zwiſchen gekochtem und ungekochtem Waſſer gar kein Unterſchied. Eben ſo falſch iſt das alte ſehr gemeine Vorurtheil, daß das Eis in den Fluͤſſen auf dem Grunde entſtehe, und erſt in der Folge unter der Geſtalt der großen Schollen, die man Grundeis nennt, in die Hoͤhe komme. Es iſt

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Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1798, S. 676. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch01_1798/690>, abgerufen am 25.11.2024.