Es giebt ferner in der Philosophie, im Erklä- ren und im Beweisen eben so wohl einen gewissen Geschmack, als in den Künsten und in den Wer- ken des schönen Geistes; ein dunkles Gefühl von der Stärke oder der Schwäche der Gründe selbst, ehe man sie noch genau geprüft hat; ein vorläu- figes Urtheil von der Wahrheit oder der Brauch- barkeit seiner Ideen vor der Untersuchung. Die- ser Geschmack nun wird von dem Witze, von dem wir reden, und den die Lateiner Sagacität nen- nen, hervorgebracht. Er weiset dem Nachdenken die Punkte an, auf die es sich zu richten hat. Bey der Erlernung der Wissenschaften bringt er eine schnelle Begreifung und eine richtige Anwen- dung der vorgetragnen Wahrheiten hervor; bey einem höhern Fortgange äußert er sich durch eine gewisse Erfindsamkeit, die Seite des Dinges zuerst zu finden, von der sie sich am besten angreifen läßt, und den Begriff von ihm zu fassen, der am leichtesten und am fruchtbarsten bearbeitet werden kann. So zeigt er sich z. B. in der Mathematik durch die Wahl der Beweise, durch die Abkürzung
der Faͤhigkeiten.
Es giebt ferner in der Philoſophie, im Erklaͤ- ren und im Beweiſen eben ſo wohl einen gewiſſen Geſchmack, als in den Kuͤnſten und in den Wer- ken des ſchoͤnen Geiſtes; ein dunkles Gefuͤhl von der Staͤrke oder der Schwaͤche der Gruͤnde ſelbſt, ehe man ſie noch genau gepruͤft hat; ein vorlaͤu- figes Urtheil von der Wahrheit oder der Brauch- barkeit ſeiner Ideen vor der Unterſuchung. Die- ſer Geſchmack nun wird von dem Witze, von dem wir reden, und den die Lateiner Sagacitaͤt nen- nen, hervorgebracht. Er weiſet dem Nachdenken die Punkte an, auf die es ſich zu richten hat. Bey der Erlernung der Wiſſenſchaften bringt er eine ſchnelle Begreifung und eine richtige Anwen- dung der vorgetragnen Wahrheiten hervor; bey einem hoͤhern Fortgange aͤußert er ſich durch eine gewiſſe Erfindſamkeit, die Seite des Dinges zuerſt zu finden, von der ſie ſich am beſten angreifen laͤßt, und den Begriff von ihm zu faſſen, der am leichteſten und am fruchtbarſten bearbeitet werden kann. So zeigt er ſich z. B. in der Mathematik durch die Wahl der Beweiſe, durch die Abkuͤrzung
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der Faͤhigkeiten.
Es giebt ferner in der Philoſophie, im Erklaͤ-
ren und im Beweiſen eben ſo wohl einen gewiſſen
Geſchmack, als in den Kuͤnſten und in den Wer-
ken des ſchoͤnen Geiſtes; ein dunkles Gefuͤhl von
der Staͤrke oder der Schwaͤche der Gruͤnde ſelbſt,
ehe man ſie noch genau gepruͤft hat; ein vorlaͤu-
figes Urtheil von der Wahrheit oder der Brauch-
barkeit ſeiner Ideen vor der Unterſuchung. Die-
ſer Geſchmack nun wird von dem Witze, von dem
wir reden, und den die Lateiner Sagacitaͤt nen-
nen, hervorgebracht. Er weiſet dem Nachdenken
die Punkte an, auf die es ſich zu richten hat.
Bey der Erlernung der Wiſſenſchaften bringt er
eine ſchnelle Begreifung und eine richtige Anwen-
dung der vorgetragnen Wahrheiten hervor; bey
einem hoͤhern Fortgange aͤußert er ſich durch eine
gewiſſe Erfindſamkeit, die Seite des Dinges zuerſt
zu finden, von der ſie ſich am beſten angreifen
laͤßt, und den Begriff von ihm zu faſſen, der am
leichteſten und am fruchtbarſten bearbeitet werden
kann. So zeigt er ſich z. B. in der Mathematik
durch die Wahl der Beweiſe, durch die Abkuͤrzung
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/99>, abgerufen am 23.11.2024.
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