Man findet indessen hier doch einen sehr merk- lichen Unterschied.
Wer durch Worte denken und sich ausdrücken soll, muß allgemeine Begriffe haben, das ist klar; denn die Worte bezeichnen keine andre. Aber die Seele kann diese Begriffe auf eine doppelte Art haben. Entweder sucht sie nur in den einzelnen Fällen den Begriff auf, und begnügt sich, wenn sie in jedem vorkommenden neuen Falle diese Merkmale wiedererkennen und den Begriff anwen- den kann: oder sie sammlet diese Merkmale in eins, bezeichnet jedes mit einem Worte, und be- müht sich, den allgemeinen Begriff abgesondert von den Fällen, aus denen er abgezogen ist, vor- zustellen. Der erste macht sich das Wort und die Vorstellung deutlich, indem er eine geschwinde dunkle Uebersehung der Fälle anstellt, in denen es gebraucht wurde; der andere, indem er eine Er- klärung davon macht.
Man könnte jenes den praktischen, und dieses den theoretischen Verstand nennen.
Ueber die Pruͤfung
Man findet indeſſen hier doch einen ſehr merk- lichen Unterſchied.
Wer durch Worte denken und ſich ausdruͤcken ſoll, muß allgemeine Begriffe haben, das iſt klar; denn die Worte bezeichnen keine andre. Aber die Seele kann dieſe Begriffe auf eine doppelte Art haben. Entweder ſucht ſie nur in den einzelnen Faͤllen den Begriff auf, und begnuͤgt ſich, wenn ſie in jedem vorkommenden neuen Falle dieſe Merkmale wiedererkennen und den Begriff anwen- den kann: oder ſie ſammlet dieſe Merkmale in eins, bezeichnet jedes mit einem Worte, und be- muͤht ſich, den allgemeinen Begriff abgeſondert von den Faͤllen, aus denen er abgezogen iſt, vor- zuſtellen. Der erſte macht ſich das Wort und die Vorſtellung deutlich, indem er eine geſchwinde dunkle Ueberſehung der Faͤlle anſtellt, in denen es gebraucht wurde; der andere, indem er eine Er- klaͤrung davon macht.
Man koͤnnte jenes den praktiſchen, und dieſes den theoretiſchen Verſtand nennen.
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Ueber die Pruͤfung
Man findet indeſſen hier doch einen ſehr merk-
lichen Unterſchied.
Wer durch Worte denken und ſich ausdruͤcken
ſoll, muß allgemeine Begriffe haben, das iſt klar;
denn die Worte bezeichnen keine andre. Aber die
Seele kann dieſe Begriffe auf eine doppelte Art
haben. Entweder ſucht ſie nur in den einzelnen
Faͤllen den Begriff auf, und begnuͤgt ſich, wenn
ſie in jedem vorkommenden neuen Falle dieſe
Merkmale wiedererkennen und den Begriff anwen-
den kann: oder ſie ſammlet dieſe Merkmale in
eins, bezeichnet jedes mit einem Worte, und be-
muͤht ſich, den allgemeinen Begriff abgeſondert
von den Faͤllen, aus denen er abgezogen iſt, vor-
zuſtellen. Der erſte macht ſich das Wort und die
Vorſtellung deutlich, indem er eine geſchwinde
dunkle Ueberſehung der Faͤlle anſtellt, in denen es
gebraucht wurde; der andere, indem er eine Er-
klaͤrung davon macht.
Man koͤnnte jenes den praktiſchen, und dieſes
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Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/56>, abgerufen am 27.11.2024.
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